Bayerischer Kompromiss – ein „faules“ Vergleichsangebot?

Ein Bild greift zu kurz: Zusammen mit der Bayerischen Regierung hätten die Versicherer den unzähligen Gastronomie- und Gewerbebetrieben einen arg faulen Kompromiss eingebrockt. Denn jener gescholtene und bespottete Kompromiss, sich mit 15 Prozent der Tagessumme zu begnügen (trotz eventuellem Anspruch auf 100 Prozent), wurde auch mit Vertretern des Gastgewerbes ausgehandelt. So saßen ebenfalls der DEHOGA (Deutscher Hotel- und Gaststättenverband) Bayern und saß die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft mit am Verhandlungstisch – eine Tatsache, die in der Berichterstattung häufig übersehen wird.

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Freilich: Zunächst hatte dieser Kompromiss auch den Charakter eines völlig unverbindlichen Vorschlags. Die Beteiligung der bayerischen Landespolitik konnte über diese Unverbindlichkeit allerdings schon hinwegtäuschen und dem Vorschlag einen „offiziellen“ Charakter geben. Auch fragten sich die Verhandlungspartner anscheinend nicht, unter welchen rechtlichen Prämissen ein solches Angebot zwischen Versicherer und Versicherungsnehmer möglich ist – nämlich als Vergleich mit weitgehenden Aufklärungspflichten für den Versicherer.

Versicherer übten Druck auf Kunden aus

Stattdessen sahen nun zumindest einige Anbieter ihre Chance gekommen, auf Kunden Druck auszuüben: Sie lehnten die volle Leistung grundsätzlich ab und unterbreiteten stattdessen alternative Zahlungsangebote unter Verschweigen des unverbindlichen Charakters. Das geschah nicht nur in Bayern, sondern auch andernorts in Deutschland. Einige Versicherer drohten gar mit der Kündigung der Police, obwohl es für einen solchen Schritt keinerlei Rechtsgrundlage gibt (der Versicherungsbote berichtete hier und hier).

Auch sollten Vermittler ihre Kunden dazu drängen, sich mit dem „Weniger“ zufriedenzugeben. Gerade das aber könnte betroffenen Versicherern nun zum Problem werden: Sie könnten treuwidrig gehandelt haben. Denn gesetzliche Anforderungen an die Wirksamkeit eines solchen Vergleichs sind hoch.

Die Rechtsposition der Versicherungsnehmer: laut Expertenmeinung keineswegs schwach

Vorausgesetzt werden muss: Laut Einschätzung mehrerer namhafter Anwälte und Rechtsexperten sind die meisten Versicherer aufgrund der Betriebsschließungen in der Einstandspflicht. Einige Policen haben zwar durchaus auch wirksame Leistungsausschlüsse, weswegen jeder Fall individuell zu prüfen ist. Viele Fachanwälte und auch namhafte Rechtsexperte gehen aber in der Tendenz davon aus, dass viele Versicherer für ihre BSV-Policen voll leisten müssten. Dies ergab zum Beispiel das Rechtsgutachten des namhaften Juristen Walter Seitz (der Versicherungsbote berichtete).

Die Eintrittspflicht trifft selbst dann zu, wenn die Vertragswerke uneindeutig sind. Denn mehrdeutige Formulierungen gehen gemäß Paragraph 305c Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) zulasten des Verwenders und damit des Versicherers.

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Auch lassen die Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) vieler Versicherer nur eine Lösung dahin zu, „dass entweder nichts zu leisten, oder dass die gesamte Versicherungssumme auszuzahlen ist“, wie Walter Seitz in seinem Gutachten formuliert. Demnach gibt es zumindest unter Berufung auf die AVB keine Rechtsgrundlage, weniger zu zahlen.

„Bayerischer Kompromiss“ nur über wirksamen Vergleich möglich

Einzige Möglichkeit für einen „Kompromiss“ ist demnach ein wirksamer Vergleich gemäß Paragraph 779 Bürgerliches Gesetzbuch. Aber dieser Vergleich würde in vielen Fällen stattfinden trotz günstiger Rechtsposition für die Versicherungsnehmer und würde diese Ausgangslage verändern. Wirksam wird ein solcher Vergleich deswegen nur, wenn der Versicherer strenge Informationspflichten beachtet: Der Versicherungsnehmer muss über die uneindeutige Rechtslage und seine Rechtsposition aufgeklärt werden.

Paragraph 779 BGB definiert nämlich für einen Vergleich auch: Sobald er „bei Kenntnis der Sachlage nicht entstanden sein würde“, ist er unwirksam. Das Gesetz schützt also Menschen vor Auswirkungen eines Vergleichs, der nur aufgrund fehlender Rechtskenntnis eingegangen wurde – zum Beispiel, weil die Gegen-Partei über eine höhere Rechtskenntnis verfügte.

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Versicherungsrecht: Überlegene Rechtskenntnis darf sich nicht zum Nachteil der Kunden auswirken

Ein Problem, das besonders anhand der Versicherungswirtschaft deutlich wird: Auf dem komplexen Gebiet des Versicherungsrechts verfügen Versicherer über eine überlegene Sach- und Rechtskenntnis. Diese aber darf nicht zum Nachteil des Versicherungsnehmers ausgenutzt werden, wie aktuell auch Tobias Strübing von der Kanzlei Wirth-Rechtsanwälte deutlich macht. Der Rechtsexperte hält viele bereits geschlossenen Vergleiche nach dem „bayerischen Kompromiss“ aus diesem Grund für angreifbar – sie seien „treuwidrig und damit unwirksam“.

Nicht ausgenutzt wird die überlegene Rechtskenntnis nur, wenn der Kunde genügend informiert wurde, um seine Situation vor dem Vergleich einzuschätzen. Besonders anschaulich werden die vernachlässigten Informationspflichten der Betriebsschließungsversicherer anhand eines Beschlusses des Bundesgerichtshofs (BGH). Dieser zeigt mit Datum vom 15. Februar 2017 beispielhaft, unter welchen Bedingungen individuelle Vereinbarungen entgegen dem Vertragstext zwischen einem Versicherer und einem Versicherungsnehmer überhaupt möglich sind (Az. IV ZR 280/15).

Laut den Beschlussgründen ist nämlich stets Obacht angebracht, sobald ein Versicherer versucht, die "nach dem Vertrag bestehende Rechtslage durch die Vereinbarung zum Nachteil des Versicherungsnehmers" zu ändern und dessen Rechtsposition dadurch "ins Gewicht fallend“ zu verschlechtern. Stets nämlich wäre dies ein "starkes Indiz" einer "Handlung gegen Treu und Glauben".

Und will sich der Versicherer nicht dem Vorwurf rechtsmissbräuchlichen Verhaltens aussetzen, muss er die engen Grenzen beachten, unter denen ein solches Angebot überhaupt unterbreitet werden darf. Das nämlich ist nur möglich, wenn der Versicherer zugleich „klare, unmissverständliche und konkrete Hinweise darauf“ gibt, „wie sich die vertragliche Rechtsposition des Versicherungsnehmers darstellt und in welcher Weise diese durch den Abschluss der Vereinbarung verändert oder eingeschränkt wird“.

Dies gilt auch bei Annahme einer unklare Sach- und Rechtslage. So geht Fachanwalt Strübing davon aus, dass der Versicherer verpflichtend darüber informieren muss, dass "bestenfalls Zweifel über den Leistungsanspruch bestehen". Nur dann hat er den Versicherungsnehmer genügend über die Bedingungen im Vorfeld des Vergleichs aufgeklärt.

Bei unwirksamem Vergleich: Weiterhin kann die volle Versicherungssumme verlangt werden

Überträgt man den Beschluss auf das Vorgehen der Betriebsschließungsversicherer, bedeutet dies: Der Vergleich wäre nur dann rechtmäßig wirksam geschlossen worden, wenn der Versicherer den Versicherungsnehmer darauf hingewiesen hätte, dass a) die Rechtslage zumindest uneindeutig ist und dass b) zumindest die Möglichkeit bestehen könnte, dass der Versicherungsnehmer Anspruch auf die vollen 100 Prozent hat.

Ein solches wirksames Vorgehen erfolgte aber häufig nicht. Fachanwalt Strübing spricht deswegen auch von "sehr vielen Fällen", in denen die Versicherer in Verdacht stehen, gegen Treu und Glauben gehandelt zu haben. Und weil in diesen Fällen die Vergleiche unter unwirksamen Bedingungen geschlossen wurden, könnten Kunden „trotz des Vergleiches auch weiterhin die volle Versicherungsleistung verlangen“.

Strübing vermutet Verstoß gegen Kardinalpflicht des VVG

Für diese Einschätzung spricht nicht nur das Bürgerliche Gesetzbuch oder die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. Laut Rechtsexperte Strübing verstößt das Verhalten der Versicherer auch gegen jene Kardinalpflicht, die im Zuge der IDD-Umsetzung durch den neuen Paragraphen 1a Versicherungsvertragsgesetz (VVG) ab 2018 eingeführt wurde.

Muss doch der Versicherer laut dieser Maßgabe "stets ehrlich, redlich und professionell“ im „bestmöglichen Interesse“ seines Kunden handeln. Strübing formuliert hierzu: „Der Versicherer muss seinen Kunden also wahrheitsgetreu informieren, darf ihn nicht täuschen und nicht allein zu seinem eigenen Vorteil beeinflussen“.

Auch nachteilige Vertragsanpassung wird verschwiegen

Doch nicht nur die Art, wie viele (nicht alle) Versicherer die vereinbarten Summen umgehen wollen, stößt Rechtsexperten Strübing sauer auf. Zugleich führte die Annahme des Vergleiches in vielen Fällen auch zu einer nachteiligen Vertragsanpassung – und zwar dergestalt, dass SARS Cov-2 nicht länger versichert ist. Denn viele Vergleichsangebote beinhalten Klauseln, die laut Strübing "im Ergebnis zu einer Vertragsänderung führen“.

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In allen betroffenen Fällen, die der Fachkanzlei Wirth vorliegen, würde aber ein Hinweis darauf fehlen, dass mit Annahme des Vergleichs auch eine Veränderung des Vertrags zum Nachteil des Kunden verbunden ist. Auch hier erfüllen die Versicherer nicht ihre Pflichten im Sinne des Gesetzes – die Vergleiche dürften auch aus diesem Grund unwirksam sein. Eine Presseerklärung mit den Vorwürfen ist auf der Webseite der Kanzlei verfügbar.

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