Versicherungsbote: Viele Unternehmen sind aktuell in ihrer Existenz bedroht, die Coronakrise führt nicht nur zur Kurzarbeit und wegfallenden Aufträgen, sondern auch zu Zukunftsängsten bei Mitarbeitern. Welche Führungsqualitäten sollten Top-Vorstände gerade in dieser Zeit mitbringen?

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Jörg Kasten: Die Coronapandemie entwickelt sich für viele Top-Vorstände zur ultimativen Bewährungsprobe und offenbart – wie wohl kaum eine Krise zuvor – die eigentliche Verfassung und Fähigkeiten der Vorstände. Das liegt primär daran, dass sich die Ansprüche an die traditionelle Führungsarbeit drastisch verändert haben. Aktuell schlägt die Stunde der krisenfesten Charaktere, die sich nicht vor schwierigen Entscheidungen wegducken, sondern auch „im Sturm“ aufrecht stehen. Starke Leader, die klare Orientierung geben, statt „Schönwetterkapitäne“ heißt daher das aktuelle Anforderungsprofil. Führungskräfte müssen – auch wenn sie unangenehme Wahrheiten übermitteln – mehr denn je die Bedürfnisse der Angestellten und auch sämtlicher weiterer Stakeholder verstehen und adäquat darauf reagieren: Ängste nehmen, Verbundenheit vermitteln und Chancen aufzeigen. Der Duktus ist sicherlich informeller als vor der Pandemie, der Ton empathischer beziehungsweise mehr auf Dialog aus – bottom-up statt top-down lautet die Devise.

Macher statt Schönwetterkapitänen seien gefragt, so eine These von Ihnen. Worin unterscheiden sich denn beide Charaktere im Top-Management?

Zupackende Macher zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie unaufgeregt mit der derzeitigen Situation umgehen, klar und transparent kommunizieren und sich auch vor harten Maßnahmen nicht scheuen, diese aber auch vor allen Stakeholdern begründen und umsetzen können. Es geht darum, nun mit Augenmaß auszuloten, welche Möglichkeiten die Organisation hat. Das nennt man Ambiguitätstoleranz: sich also auf die Mehrdeutigkeit und Ambivalenz von Konstellationen bewusst einlassen und sowohl konstruktiv als auch innerlich gelassen mit ihnen umgehen.

Darüber hinaus gehört Resilienz zu den wichtigsten Führungskompetenzen in wirtschaftlich herausfordernden Zeiten wie diesen. Wird diese innere Widerstandskraft vom Top-Manager authentisch vorgelebt, überträgt sie sich besonders in Krisensituationen auf das gesamte Team – und trägt damit zum künftigen Unternehmenserfolg bei. Firmen tun im Hinblick auf die Post-Corona-Zeit daher gut daran, solche Managertypen bereits jetzt zu finden und für sich zu gewinnen.

Bei der Suche nach solchen Profilen nehmen Unternehmen auch immer häufiger gezielt Managerinnen in den Fokus. Es ist nämlich ein Klischee, dass weibliche Führungskräfte nicht die für das absolute Top-Management notwendigen Kompetenzen mitbringen. Das Gegenteil ist richtig: Gerade die oft zitierten Soft-Skills und dort vor allem die in letzter Zeit stärker gesuchten Eigenschaften wie Kommunikationsfähigkeit und Einfühlungsvermögen sind tendenziell sogar öfter bei weiblichen Führungskräften ausgeprägt.

...allerdings sind Frauen in deutschen Vorstandsetagen noch immer stark unterrepräsentiert.

Dass es in deutschen Vorständen immer noch vergleichsweise „männlich“ zugeht, hat viele Ursachen. Wir stellen jedoch seit Jahren eine Tendenz in die richtige Richtung fest: Auf Aufsichtsrats- und Vorstandsebene ist man durchaus an einer diversen Zusammensetzung interessiert. Die Suchaufträge werden dementsprechend auch zunehmend stärker formuliert. Eine Entwicklung, die die geplante Frauenquote sicherlich noch befeuern wird.

Aber nicht nur beim Thema Geschlechterdiversität herrscht noch Nachholbedarf, auch was die generelle Standfestigkeit der Charaktere im Top-Management angeht, ist vielerorts noch Luft nach oben. So gibt es in etlichen Firmen immer noch Top-Manager, die mit schlechten Nachrichten nicht umgehen können. Fairerweise muss man dazu sagen, dass dies auch lange Zeit, zu Hochzeiten der deutschen Industrie, nicht nötig war. Etwaige Führungsschwächen konnten also kaschiert werden, da viele Manager im guten Wind der Wirtschaft mitgesegelt sind. Jetzt, wo die See rauer geworden ist, trennt sich die Spreu vom Weizen. Der ein oder andere kommt ins Schlingern, andere Führungskräfte glänzen aber gerade jetzt mit einer erstaunlichen Flexibilität, Agilität und Anpassungsfähigkeit.

…und wo findet man derzeit Führungskräfte mit den genannten Qualitäten? Die Coronakrise dürfte auch für das Personalmanagement herausfordernd sein.

Um es salopp zu sagen: Die findet man nicht, die muss man aktiv suchen. Gerade Führungspositionen erfordern Kandidaten, die über mehr als die reine fachliche Qualifikation verfügen, der Kandidat muss auch als Persönlichkeit zur Unternehmenskultur und dem Wertesystem passen. Das klingt zunächst banal, ist es aber – wie die alltägliche Praxis immer wieder zeigt – leider nicht. Zahlreiche neu angeworbene Top-Manager scheitern nicht selten genau aus diesem Grund.

Um offene Top-Management-Positionen optimal zu besetzen, reicht es zudem nicht aus, die geeigneten Kandidaten nur zu identifiziert, sondern sie müssen darüber hinaus auch von der Position und vom Unternehmen selbst überzeugt werden. Ein Punkt, der im Zuge der Coronakrise stark an Bedeutung gewonnen hat. Denn die Offenheit für einen Jobwechsel ist erheblich gesunken: Sicherheit statt Jobwechsel heißt aktuell der Trend. Daher müssen Firmen jetzt mehr denn je überzeugende Wechselargumente liefern. Dabei sollten sie mit Anreizsystemen aufwarten können, die über monetäre Faktoren hinausgehen. Denn in meiner täglichen Arbeit stelle ich vermehrt fest: Allein ums Geld geht es im Top-Management schon länger nicht mehr.

Fällt Ihnen für Deutschland ein Beispiel für einen Firmenchef bzw. eine Chefin ein, die Krisenqualitäten mitbringen?

Aktuelle Beispiele kann man momentan in den Wirtschaftszeitungen finden: Hier ist sicherlich Carsten Spohr, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Lufthansa, zu nennen. Der Konzern steckt – da verrate ich nicht zu viel – pandemiebedingt in einer existenziellen Krise. Die Geschäftszahlen sind besorgniserregend: Rund 350 Millionen Euro verliert die Lufthansa derzeit Corona-bedingt pro Monat. Diese Management-Herausforderung muss man sich einmal vor Augen halten. Nichtsdestotrotz stünde das Unternehmen meines Erachtens ohne seinen „sturmfesten Kapitän“ nicht nur wirtschaftlich, sondern auch mental noch schlechter dar. Denn Spohr ist der beachtliche kommunikative Spagat gelungen, die Gewerkschaften, den Bund, Investoren, aber auch seine Mitarbeiter großflächig auf ein hartes Restrukturierungsprogramm einzuschwören. Er kommuniziert verständlich und transparent – und vor allem auch auf Augenhöhe – mit allen wichtigen Interessengruppen, schreckt aber auch vor unpopulären, aber leider notwendigen Entscheidungen nicht zurück.

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Klar ist auf der anderen Seite aber auch: Die Lufthansa hat derzeit mit einem personellen Aderlass, gerade was Top-Manager auf Vorstandslevel oder darunter angeht, zu kämpfen. Das lässt sich in solchen unternehmerischen Sondersituationen allerdings kaum verhindern.

...Spitzenpersonal per Online-Recruiting?

Versicherungsbote: Digitale Kanäle werden für die Rekrutierung von Spitzenpersonal künftig an Bedeutung gewinnen: ein Prozess, den Corona beschleunigt. Was sind Vor- und Nachteile dieser Art des Recruitings? Und können Sie sich vorstellen, dass Topmanager künftig komplett auf digitalem Wege zu ihren Posten finden?

Jörg Kasten: Die Corona-Krise hat uns als Personalberater natürlich dazu gezwungen, gewohnte Arbeitsabläufe umzustellen. So besetzen wir ab und an absolute Top-Management-Positionen, ohne dass sich beide Parteien jemals Face-to-Face gegenübersaßen. Alles läuft rein virtuell ab – und das funktioniert. Denn digitale Bewerbungsgespräche bringen – vor allem bei etwaigen Vorgesprächen – entscheidende Vorteile mit sich, etwa in puncto Agilität und Schnelligkeit. Aber natürlich sind persönliche Treffen zu finalen Gesprächen auch künftig unerlässlich. Personalentscheider können zehn digitale Interviews geführt haben, ein persönliches Gespräch „Auge in Auge“ kann das niemals ersetzen. Nichtsdestotrotz ist es in dieser außergewöhnlichen Zeit aber eben manchmal sinnvoller, auf diese neue Variante zurückzugreifen und so vielleicht sechs virtuelle Gespräche zu führen, als ein Telefonat und zwei persönliche Treffen. HR-Abteilungen sollten daher lieber mehr digitale Gespräche führen, als physische Treffen unnötig aufzuschieben. Ich bin übrigens davon überzeugt, dass sich digitale Recruitingprozesse in Teilen auch in der Post-Corona-Zeit stärker durchsetzen werden. Denn eines zeigt die Pandemie ganz deutlich: Es geht, wenn es muss!

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Manager wie Jeff Bezos und Elon Musk sind weltweit sehr erfolgreich, aber auch für ihre mitunter ruppige und unberechenbare Art bekannt. Sie gelten auch als hart gegenüber ihren Mitarbeitern und Wettbewerbern. Was sind das aus Ihrer Sicht für Managertypen? Und warum haben gerade sie so einen großen Erfolg?

Zunächst einmal: Sie sind beides Amerikaner und passen daher in ihr sozioökonomisches Umfeld – und das meine ich nicht zynisch. Es ist ganz einfach so, dass der US-amerikanische Führungsstil im Vergleich zum deutschen viel schneller und direkter ist. "My Way or the Highway" – so wird in den Vereinigten Staaten eine Haltung bezeichnet, die keine andere Meinung zulässt. Wenn Jeff Bezos oder Elon Musk eine Entscheidung treffen, hat das gesamte Team mitzuziehen. Es gilt das Top-Down-Prinzip. US-Führungskräfte erwarten von ihrem Team nicht weniger als höchste Flexibilität und Aufopferungsbereitschaft. Das wurde auch in der Corona-Krise wieder ganz deutlich.

Wie meinen Sie das?

Die Corona-Krise legt die Unwägbarkeiten des amerikanischen Wirtschaftsmodells für Angestellte erbarmungslos zu Tage. Im Land der Freiheit – die vor allem eine unternehmerische Freiheit ist – sind Arbeitnehmer einem permanenten Existenzrisiko ausgesetzt. Wenn Elon Musk also trotz der vor allem in den USA grassierenden Corona-Pandemie propagiert, weiter zur Arbeit zu kommen und etwaige kalifornische Lock-Down-Maßnahmen infrage stellt, werden die Arbeitnehmer das mitunter als mutigen und richtigen Schritt sehen, dem sie gerne Folge leisten. Sie bekommen andernfalls schlicht kein Geld – weder vom Arbeitgeber noch vom Sozialsystem. In Deutschland wäre diese kompromisslose Art der Führung undenkbar und Probleme mit den eigenen Mitarbeiten beziehungsweise dem Betriebsrat programmiert.

Zudem ist es in den USA Usus, mit harten Bandagen gegen Wettbewerber vorzugehen. Man muss sich nur mal den Umgang der großen US-amerikanischen Technologie-Konzerne untereinander anschauen. Wenn man diesen als deutsches Unternehmen pflegen würde, wäre man – nonchalant gesagt – ruckzuck Geschichte. In Deutschland gilt der Gang vor ein Gericht als Ultima Ratio, in den Vereinigten Staaten ist er schon fast daily-business, getreu dem Motto „Let’s give it a try and see what happens“.

Braucht es nicht mehr Elon Musks - auch in Deutschland?

Versicherungsbote: Provokativ gefragt: Bräuchte nicht eine Industrienation wie Deutschland sogar mehr Visionäre wie Elon Musk in Führungspositionen?

Jörg Kasten: Wenn ich das Schlagwort „Visionär“ höre, muss ich unweigerlich an unseren ehemaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt denken: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen". Aber Spaß beiseite. Elon Musk ist definitiv gewieft darin, US-amerikanische Start-ups auf Weltniveau zu heben. Diese One-Man-Show würde in Deutschland aber schlichtweg nicht ganz so erfolgreich funktionieren. Von den bereits erwähnten rechtlichen Mitbestimmungsrechten mal abgesehen, herrscht hier ein völlig konträres Verständnis von erfolgreicher Führung und gutem Management. US-Manager gehen gerne kalkulierte Risiken ein. Die Vorliebe für schnelle und pragmatische Entscheidungen hat aber auch ihre Tücken: So kommt es nicht selten vor, dass Entscheidungen, die montags getroffen wurden, freitags schon wieder obsolet sind. Die Amerikaner arbeiten also nach dem Trial-and-Error-Prinzip.

Für US-amerikanische Manager in Deutschland kann diese Herangehensweise schnell zum Problem werden. Sie würde hierzulande als Schlingerkurs und wankelmütiger Führungsstil wahrgenommen. US-amerikanische Manager in Deutschland verzweifeln zudem leicht am Tempo und den oft langwierigen Prozessen. Frustration macht sich schnell breit, wenn sie die Dinge nicht in der amerikanischen Geschwindigkeit umsetzen können. Eine Erfahrung, die auch Elon Musk gerade in der märkischen Provinz Grünheide macht.

Stichwort Digitalisierung: Brauchen Führungskräfte heute vermehrt technisches Verständnis, um etwa den Strukturwandel in Konzernen zu begleiten? Um bei den beiden Beispielen zu bleiben: sowohl Bezos als auch Musk haben einen technischen Abschluss und keinen ökonomischen. Entsteht hier vielleicht sogar ein neuer Typus, eine Art "Technical Leader"?

Ich glaube nicht, dass erfolgreiche Führungskräfte die technischen Zusammenhänge en détail verstehen müssen. Im Gegenteil: Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen, sie sollten es gar nicht. Vielmehr ist eine wichtige Führungskompetenz, denjenigen Vertrauen entgegenzubringen, die wissen, wie es geht – und auf Grundlage deren Rats und Empfehlungen entweder richtungsweisende Entscheidungen zu treffen oder den Experten die nötigen Freiheiten zu gewähren. Grundvoraussetzung für ein konstruktives und wertschöpfendes Miteinander ist allerdings, dass Führungskräfte digitalen Technologien gegenüber aufgeschlossen sind. Denn wer Verantwortung trägt und Technologie mit Argwohn sieht, gefährdet die Zukunftsfähigkeit des gesamten Konzerns.

Welche Bedeutung haben Quereinsteiger im Topmanagement, vielleicht aus fremden Branchen? Gibt es hier einen Wandel?

Das war und ist leider immer noch schwierig, auch wenn die Akzeptanz allmählich zunimmt. Wir kennen mittlerweile viele gute Beispiele von Führungskräften aus anderen Branchen. Das ist auch nicht verwunderlich, denn letztlich kommt es an der Spitze viel auf Situationsbewältigung an. Wenn also ein Top-Manager aus einer Bank über Jahre Erfahrung mit der Digitalisierung gesammelt und sein Unternehmen gegen innovative, junge Wettbewerber behauptet hat, ist er für eine Branche, die diese Phase noch nicht durchlebt hat, sicherlich sehr wertvoll. Immer nur auf die Branchen-eigenen Top-Kandidaten zu schauen ist auf Dauer nicht förderlich – ganz einfach, weil die Konkurrenz dies auch nicht tut, sondern ihre Kandidaten danach auswählt, welche Eigenschaften konkret benötigt sind. Ein Top-Manager, der verstanden hat, was Kunden in bestimmten Märkten heute von Produkten und Services erwarten, kann also gleichermaßen für einen Automobilhersteller als auch für ein Versicherungsunternehmen interessant sein. Meiner Ansicht nach gehört es daher zur Aufgabe eines guten Headhunters, immer mal wieder Wildcards ins Spiel zu bringen und über den Branchen-Tellerrand zu schauen. Auch Elon Musk baut nicht nur Elektroautos.

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Die Fragen stellte Mirko Wenig

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