Claus-Dieter Gorr: Nein, der Gesetzgeber sollte eher bei den Vermittlern hinschauen. Bis heute erreichen uns täglich Anrufe von PKV-Versicherten, die sich darüber beschweren, dass sie von ihren Vermittlern bei Abschluss nicht ausreichend aufgeklärt worden sind und jetzt auf einem Großteil relevanter Leistungsausgaben sitzen bleiben. Andere bemängeln das pauschale PKV-Marketing, das eine sorgenfreie Versorgung suggeriert.

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Grundsätzlich sehe ich zwei Lösungsszenarien: Entweder verschärft der Gesetzgeber massiv die Beratungs- Informations- und Dokumentationspflichten der Vermittler oder er reformiert die PKV grundlegend. Wahrscheinlich wären zum politischen Überleben der substitutiven Krankenversicherung beide Maßnahmen parallel erforderlich.

Entsprechend der Ergebnisse könnte man schlussfolgern, dass eine Zweiklassen-Medizin nicht (nur) zwischen PKV und GKV verläuft, sondern vor allem zwischen Privatversicherten. Haben Sie beobachten können, dass im PKV-System manche Gruppen bessergestellt sind als andere?

Nein, es ist fast immer an der Kompetenz und Beratungsleistung des Vermittlers festzumachen. Wenn man sich das Ergebnis der neuesten ASS-Compact-Umfage zu den beliebtesten PKV-Unternehmen der Makler anschaut, dann sind auf den ersten 10 Plätzen sowohl Unternehmen mit leistungsstarken, aber auch erheblich leistungsschwachen Tarifen vertreten. Das zeigt, das die Auswahlparameter der Vermittler nicht allein an den Leistungsinhalten ausgerichtet sein können.

Konnten Sie Leistungen bzw. Bereiche identifizieren, bei denen Privatversicherer den GKVen tendenziell überlegen sind?

Das kommt darauf an, wie man eine überlegenere Leistung definiert. Im Gesamtergebnis wurden die 103 Mindestkriterien der 32 leistungsstärksten Tarife eines jeden PKV-Unternehmens zu 27 Prozent nicht erfüllt, zu ein Prozent teilweise, zu 30 Prozent erfüllt und zu 42 Prozent übererfüllt.

Wenn man also eine höhere Vergütung für ärztliche Behandler oder die Unterbringung im Krankenhaus als eine überlegene Leistung ansieht, dann zählen diese Bereiche auch zu den überlegenen Leistungen. Die meisten PKV-Tarife haben klare Vorteile im Bereich der Hilfsmittel (speziell auch Sehhilfen), Zahnleistungen, Arzneimittel und künstliche Ernährung oder auch der Heilmittel sowie dem Zugang zu nichtärztlichen Heilbehandlern. Hinzu kommt, dass der Zugang zu spezialisierten Ärzten in der PKV deutlich leichter möglich ist als in der GKV. Insgesamt muß aber festgehalten werden, das in der PKV nur der jeweils individuell gewählte Leistungsumfang mit seinen Leistungsmerkmalen lebenslang vertraglich garantiert ist.

Und umgekehrt: Wo haben die Krankenkassen tendenziell Vorteile gegenüber der PKV?

Einen pauschalen Leistungsvorteil der GKV gegenüber der PKV gibt es zwar nicht, wohl aber der Mehrheit der PKV-Tarife gegenüber.

Die GKV hat ihre theoretischen Vorteile in einer linearen Umfänglichkeit der Leistungskataloge, den politischen Reformoptionen sowie dem leicht möglichen Kassenwechsel. Dadurch ist das Risiko von überproportionalen kassenindividuellen Beitragssteigerungen minimiert. Hinzu kommen die Vorteile der Familienversicherung sowie eine stressfreiere Leistungsabwicklung. Wer beim Arzt drankommt, muss sich im Gegenzug zur PKV keine Sorgen um die Erstattung seiner Rechnung machen. Die Wahrscheinlichkeit, im Alter eine Leistung zu benötigen, die dem Grunde nach nicht versichert ist, dürfte zudem systembedingt deutlich geringer sein als in der PKV.

Sie haben auch die gesetzliche Krankenversicherung analysiert. Es gibt 110 Krankenkassen, aber starke Grenzen durch den Gesetzgeber. Macht diese Vielzahl an Kassen aus Ihrer Sicht überhaupt Sinn, wenn der Wettbewerb stark eingeschränkt ist?

Nein, sicher nicht. Die Fusionen gesetzlicher Kassen werden weitergehen.

Wir wissen von einigen Krankenkassen-Funktionären, dass sie sich mehr Freiheiten wünschen: etwa mit dem Blick auf den Kontrahierungszwang und den vorgeschriebenen Leistungen. Wäre aus Ihrer Sicht eine Option, hier die gesetzlichen Regeln zu lockern? Wo würden mehr Freiheiten helfen bzw. schaden? Und wie positionieren Sie sich zur Idee einer Bürgerversicherung?

Das deutsche Gesundheitssystem ist allgemein gut anerkannt und genießt eine hohe Akzeptanz in der Bevölkerung: exzellente Infrastruktur, hohe Versorgungsqualität, gute Ausbildung von Leistungserbringern. Eine frühe Nutzenbewertung sowie hohe Investitionen, beispielsweise in Forschungseinrichtungen und Qualitätszentren, steigern die Attraktivität des Systems und stärken dieses nachhaltig.

In unserem 2014 veröffentlichten Faktencheck zum Gesundheits- und Versicherungssystem in Deutschland haben wir aber auch bereits eklatante Schwächen herausgearbeitet: Ärztemangel in ländlichen Regionen, mittelmäßige Qualität von Leistungen bei vergleichsweise hohen Kosten und der Investitionsstau bei Krankenhäusern sind nur einzelne Beispiele.

Hier sehen Sie die größten Baustellen für die Zukunft?

Grundsätzlich gilt: Es existiert kein gemeinsames Zielbild für das deutsche Gesundheitssystem. Dieses ist jedoch die essenzielle Voraussetzung für den Erfolg der zukünftigen Entwicklung. Es fehlt eine Strategie für Nachhaltigkeit, Beteiligungsgerechtigkeit, Eigenverantwortung. Der Leistungskatalog ist nicht transparent und ausdifferenziert und es gibt eine unlogische Zugangssteuerung der Bürger zu GKV und PKV. Im Hinblick auf die intergenerative Gerechtigkeit ist das Gesundheitssystem daher eher als defizitär ausgeprägt anzusehen. Insoweit bedarf es einer grundsätzlichen Neuausrichtung, die auch die Option einer Bürgerversicherung nicht ausschließt.

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Die Fragen stellte Mirko Wenig

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