Versicherungsbote: „Gesetzliche Krankenversicherer oft besser als private“, so lautete Ende Dezember eine Schlagzeile, die sich auf eine viel beachtete Studie aus Ihrem Hause bezog. Das klang recht reißerisch. Können Sie das Ergebnis der Studie noch einmal kurz zusammenfassen?

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Claus-Dieter Gorr: Das Ergebnis zeigt eine Spreizung im Leistungsgefüge der jeweils leistungsstärksten Tarife aller 32 PKV-Versicherer von über 200 Prozent. Von 103 definierten Mindestleistungskriterien, also den Mindeststandards eines Krankenversicherungsschutzes, hat die GKV additiv 100 Leistungskriterien erfüllt, der leistungsstärkste PKV-Tarif 99, der leistungsschwächste 32.

In den Vertragsbedingungen der PKV-Tarife fehlen - trotz teilweise vorhandener Mehrleistungen gegenüber der GKV – auch grundsätzliche Leistungen, die die GKV bereithält und die man zu recht bei Krankheit von einer Krankenversicherung generell erwarten darf.

„Etliche private Krankenversicherungsunternehmen erfüllen selbst in ihren leistungsstärksten Tarifen nicht die definierten Mindestkriterien“, so ein Ergebnis Ihrer Studie. Auf welche Lücken in den PKV-Tarifen sind Sie gestoßen, die für Privatversicherte besonders brisant sein können? Können Sie Beispiele nennen?

Die gravierendsten Deckungslücken gibt es im Bereich der Anschlussheilbehandlung, Reha und Kur, der häuslichen Krankenpflege und Palliativversorgung, der Psychotherapie, Transporte, Prävention und Familienplanung (das heißt, nicht rechtswidriger Schwangerschaftsabbruch, Haushaltshilfe, Sozialpädiatrie, Kindernachversicherung). Mit Ausnahme der Defizite bei der Familienplanung alles Leistungskriterien, die in der Regel kostenintensiv sind und erst mit zunehmender Vertragsdauer in Anspruch genommen werden. Also meistens dann, wenn eine Korrektur nicht mehr möglich ist.

Sie haben selbst Mindestkriterien für die Studie festgelegt. Was war Grundlage hierfür? Haben Sie sich an den gesetzlichen Kassen orientiert, die ja keinen festen Leistungskatalog haben, sondern eher einen Rahmen nach SGB V?

PremiumCircle Deutschland wurde durch die Bundestagsfraktion „Bündnis90/Die Grünen“ damit beauftragt, den bereits 2012 von uns definierten Mindeststandard an einen Krankenversicherungsschutz zu aktualisieren und an den vertraglich garantierten Leistungsinhalten des jeweils additiv leistungsstärksten PKV-Vollkostentarifs eines jeden Anbieters auf Erfüllung zu spiegeln. Auch der aktuelle Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung sollte daraufhin untersucht werden, ob er diesen Standard erfüllt (SGB I, SGB V, SGB X, SGB XI, G-BA-Richtlinien, KHEntgG, BMG (GKV)).

Die 103 Leistungskriterien, von denen die GKV drei nicht erfüllt, decken alle Leistungsbereiche eines Mindestkrankenversicherungsschutzes ab und wurden inhaltlich mit unserem Auftraggeber abgestimmt.

Im Einzelnen sind das die Bereiche:

  • Honorarerstattung für ärztliche Leistungen
  • Ambulante Behandlerwahl
  • Arzneimittel und künstliche Ernährung
  • Heilmittel
  • Hilfsmittel
  • Psychotherapie
  • Stationäre Behandlung
  • Anschlussheilbehandlung, Reha und Kur
  • Häusliche Krankenpflege und Palliativversorgung
  • Transporte
  • Zahnleistungen
  • Prävention
  • Familienplanung

Sie rütteln am Ruf der PKV, besonders leistungsfähig zu sein. Der PKV-Verband nannte Ihre Studie „realitätsfern“. Viele Leistungen, die vermeintlich nicht erfüllt werden, seien sehr wohl Bestandteil der Versorgung von Privatversicherten, auch wenn es keinen „verbrieften Anspruch“ darauf gebe: etwa Palliativmedizin. Was erwidern Sie auf diese Kritik?

Wir haben die Stellungnahme des PKV-Verbandes dazu gelesen und den Verband aufgefordert, uns die konkreten Rechts- und Kalkulationsgrundlagen für mögliche Kulanzleistungen zu benennen. Diese Informationen sind mangels Rechtsgrundlage bis heute ausgeblieben. Und genau das ist das Problem der PKV: es besteht eben nur ein Anspruch auf das, was vertraglich garantiert ist. Und genau das steht in der Studie drin. Sie legt transparent offen wozu die einzelnen Unternehmen offenbar bislang nicht selbst in der Lage waren, nämlich die unter Umständen für Versicherte existenziell relevanten Leistungsdifferenzierungen innerhalb der PKV-Tarifwelt. Insofern rüttelt die Studie keinesfalls pauschal am Ruf der PKV.

Niedrigzins und Alterung der Gesellschaft belasten auch die Privatversicherer, ebenso die Debatten über steigende Prämien. Das Neugeschäft schwächelt seit Jahren. Ist die PKV-Branche ausreichend zukunftsfähig? Wenn nein: Was müsste sich ändern?

Die PKV-Branche per se ist aus unserer Sicht definitiv nicht zukunftsfähig. Einige einzelne PKV-Unternehmen könnten es sein, wenn Sie detaillierte und verständliche Informationen über die Zusammenhänge und Auswirkungen ihrer langfristigen Unternehmenspolitik, Kalkulationsgrundlagen, verbindlichen Leistungsinhalte und -ausschlüsse, oder gar der unterenhmenseigenen Leistungspolitik öffentlich zugänglich machen würden.

Die PKV-Unternehmen sind diesbezüglich weitgehend eine Blackbox. Und daher hat das saldierte Neugeschäft seit mehreren Jahren in der Branche insgesamt eine stabile Negativbilanz. Die Vermittler sind breitflächig verunsichert, weil es seitens der Unternehmen keine ausreichend verständlichen Informationen zu vertraglich garantierten Leistungen, unternehmensindividueller Risiko- und Leistungspolitik sowie zu auslösenden Faktoren systemimmanenter Beitragssteigerungen gibt.

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Früher wurde vertrieblich meist der Beitragsvorteil gegenüber der GKV in den Vordergrund gestellt, heute in der Regel der schnelle Termin beim Arzt oder der Zugang zum Spezialisten. Dass allerdings im Nachhinein die Erstattungen solcher - naturgemäß meist deutlich höherer Rechnungen der Spezialisten - durch Diskussionen über Angemessenheit, sogenannte Übermaßbehandlung oder unbegründete medizinische Notwendigkeit im Abrechnungsprozess zu teilweise erheblichen prozentualen Kürzungen führen können, sorgt - gepaart mit Beitragsanpassungen – für Missstimmungen und enttäuschte Erwartungshaltungen bei Versicherten und Vermittlern. Und das schadet der PKV insgesamt massiv.

..."der Gesetzgeber sollte bei den Vermittlern hinschauen!"

Versicherungsbote: Wenn die PKV-Anbieter Mindestkriterien nicht erfüllen, müsste der Gesetzgeber den Privatversicherern dann einen strengeren Mindestkatalog vorschreiben? Wie könnte ein solcher aussehen?

Claus-Dieter Gorr: Nein, der Gesetzgeber sollte eher bei den Vermittlern hinschauen. Bis heute erreichen uns täglich Anrufe von PKV-Versicherten, die sich darüber beschweren, dass sie von ihren Vermittlern bei Abschluss nicht ausreichend aufgeklärt worden sind und jetzt auf einem Großteil relevanter Leistungsausgaben sitzen bleiben. Andere bemängeln das pauschale PKV-Marketing, das eine sorgenfreie Versorgung suggeriert.

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Grundsätzlich sehe ich zwei Lösungsszenarien: Entweder verschärft der Gesetzgeber massiv die Beratungs- Informations- und Dokumentationspflichten der Vermittler oder er reformiert die PKV grundlegend. Wahrscheinlich wären zum politischen Überleben der substitutiven Krankenversicherung beide Maßnahmen parallel erforderlich.

Entsprechend der Ergebnisse könnte man schlussfolgern, dass eine Zweiklassen-Medizin nicht (nur) zwischen PKV und GKV verläuft, sondern vor allem zwischen Privatversicherten. Haben Sie beobachten können, dass im PKV-System manche Gruppen bessergestellt sind als andere?

Nein, es ist fast immer an der Kompetenz und Beratungsleistung des Vermittlers festzumachen. Wenn man sich das Ergebnis der neuesten ASS-Compact-Umfage zu den beliebtesten PKV-Unternehmen der Makler anschaut, dann sind auf den ersten 10 Plätzen sowohl Unternehmen mit leistungsstarken, aber auch erheblich leistungsschwachen Tarifen vertreten. Das zeigt, das die Auswahlparameter der Vermittler nicht allein an den Leistungsinhalten ausgerichtet sein können.

Konnten Sie Leistungen bzw. Bereiche identifizieren, bei denen Privatversicherer den GKVen tendenziell überlegen sind?

Das kommt darauf an, wie man eine überlegenere Leistung definiert. Im Gesamtergebnis wurden die 103 Mindestkriterien der 32 leistungsstärksten Tarife eines jeden PKV-Unternehmens zu 27 Prozent nicht erfüllt, zu ein Prozent teilweise, zu 30 Prozent erfüllt und zu 42 Prozent übererfüllt.

Wenn man also eine höhere Vergütung für ärztliche Behandler oder die Unterbringung im Krankenhaus als eine überlegene Leistung ansieht, dann zählen diese Bereiche auch zu den überlegenen Leistungen. Die meisten PKV-Tarife haben klare Vorteile im Bereich der Hilfsmittel (speziell auch Sehhilfen), Zahnleistungen, Arzneimittel und künstliche Ernährung oder auch der Heilmittel sowie dem Zugang zu nichtärztlichen Heilbehandlern. Hinzu kommt, dass der Zugang zu spezialisierten Ärzten in der PKV deutlich leichter möglich ist als in der GKV. Insgesamt muß aber festgehalten werden, das in der PKV nur der jeweils individuell gewählte Leistungsumfang mit seinen Leistungsmerkmalen lebenslang vertraglich garantiert ist.

Und umgekehrt: Wo haben die Krankenkassen tendenziell Vorteile gegenüber der PKV?

Einen pauschalen Leistungsvorteil der GKV gegenüber der PKV gibt es zwar nicht, wohl aber der Mehrheit der PKV-Tarife gegenüber.

Die GKV hat ihre theoretischen Vorteile in einer linearen Umfänglichkeit der Leistungskataloge, den politischen Reformoptionen sowie dem leicht möglichen Kassenwechsel. Dadurch ist das Risiko von überproportionalen kassenindividuellen Beitragssteigerungen minimiert. Hinzu kommen die Vorteile der Familienversicherung sowie eine stressfreiere Leistungsabwicklung. Wer beim Arzt drankommt, muss sich im Gegenzug zur PKV keine Sorgen um die Erstattung seiner Rechnung machen. Die Wahrscheinlichkeit, im Alter eine Leistung zu benötigen, die dem Grunde nach nicht versichert ist, dürfte zudem systembedingt deutlich geringer sein als in der PKV.

Sie haben auch die gesetzliche Krankenversicherung analysiert. Es gibt 110 Krankenkassen, aber starke Grenzen durch den Gesetzgeber. Macht diese Vielzahl an Kassen aus Ihrer Sicht überhaupt Sinn, wenn der Wettbewerb stark eingeschränkt ist?

Nein, sicher nicht. Die Fusionen gesetzlicher Kassen werden weitergehen.

Wir wissen von einigen Krankenkassen-Funktionären, dass sie sich mehr Freiheiten wünschen: etwa mit dem Blick auf den Kontrahierungszwang und den vorgeschriebenen Leistungen. Wäre aus Ihrer Sicht eine Option, hier die gesetzlichen Regeln zu lockern? Wo würden mehr Freiheiten helfen bzw. schaden? Und wie positionieren Sie sich zur Idee einer Bürgerversicherung?

Das deutsche Gesundheitssystem ist allgemein gut anerkannt und genießt eine hohe Akzeptanz in der Bevölkerung: exzellente Infrastruktur, hohe Versorgungsqualität, gute Ausbildung von Leistungserbringern. Eine frühe Nutzenbewertung sowie hohe Investitionen, beispielsweise in Forschungseinrichtungen und Qualitätszentren, steigern die Attraktivität des Systems und stärken dieses nachhaltig.

In unserem 2014 veröffentlichten Faktencheck zum Gesundheits- und Versicherungssystem in Deutschland haben wir aber auch bereits eklatante Schwächen herausgearbeitet: Ärztemangel in ländlichen Regionen, mittelmäßige Qualität von Leistungen bei vergleichsweise hohen Kosten und der Investitionsstau bei Krankenhäusern sind nur einzelne Beispiele.

Hier sehen Sie die größten Baustellen für die Zukunft?

Grundsätzlich gilt: Es existiert kein gemeinsames Zielbild für das deutsche Gesundheitssystem. Dieses ist jedoch die essenzielle Voraussetzung für den Erfolg der zukünftigen Entwicklung. Es fehlt eine Strategie für Nachhaltigkeit, Beteiligungsgerechtigkeit, Eigenverantwortung. Der Leistungskatalog ist nicht transparent und ausdifferenziert und es gibt eine unlogische Zugangssteuerung der Bürger zu GKV und PKV. Im Hinblick auf die intergenerative Gerechtigkeit ist das Gesundheitssystem daher eher als defizitär ausgeprägt anzusehen. Insoweit bedarf es einer grundsätzlichen Neuausrichtung, die auch die Option einer Bürgerversicherung nicht ausschließt.

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Die Fragen stellte Mirko Wenig

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