Ein wichtiges Bespiel für diese versicherungsfremden Leistungen sind die von den Pflegekassen zu zahlenden Rentenversicherungsbeiträge für pflegende Angehörige. Rund drei Milliarden Euro müssen dafür Jahr für Jahr von der Pflegeversicherung aufgewendet werden. Daher fordern wir hierfür seit längerem einen entsprechend hohen Steuerzuschuss. Bisher beteiligt sich der Bund nur mit einer Milliarde Euro.

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Die Politik steht vor einem schwierigen Spagat: Einerseits sollen mehr Pflegekräfte gewonnen werden und sich die Bedingungen in der Pflege deutlich verbessern, andererseits sollen die Beiträge für gesetzlich Pflegeversicherte gering gehalten werden. Wie kann dieser Spagat aus Ihrer Sicht gelingen? Braucht es hier vielleicht eine größere Reform statt ständig neuer Reparaturarbeiten am Status Quo?

Feinjustierungen sind in allen sozialen Sicherungssystemen regelmäßig erforderlich – so auch in der Pflegeversicherung. Insgesamt hat sich die Pflegeversicherung seit ihrer Einführung 1995 bewährt, sodass aus unserer Sicht kein „Neustart“ erforderlich ist. Es ist nicht zu bestreiten, dass der beschriebene Spagat zwischen notwendigen Mehrausgaben und Beitragssatzstabilität besteht. Die Politik ist hier gefordert, diesen Spagat mit Augenmaß zu meistern. Der entsprechende Hinweis im Koalitionsvertrag, dass eine moderate Anpassung des Beitragssatzes in der Pflegeversicherung geprüft werden soll, deutet ja darauf hin, dass die aktuelle Bundesregierung den Handlungsbedarf erkannt hat. Wichtig ist für die Zukunft jedenfalls, dass Leistungsanpassungen nachhaltig gegenfinanziert sind.

Zwei Drittel der Pflegebedürftigen werden zuhause von Angehörigen umsorgt. Müssen wir häufiger über Belastungen pflegender Angehöriger reden? Auch die häusliche Pflege bedeutet ein potentielles Armutsrisiko für pflegende Angehörige, sobald sie den Job aufgeben oder die Arbeitszeit reduzieren müssen. Auch ist die physische und psychische Belastung hoch. Ich habe den Eindruck, das Thema wird seltener öffentlich debattiert als die hohen Heimkosten.

Pflegende Angehörige sind weiterhin das Rückgrat der pflegerischen Versorgung. Es wäre sicher auch kein gutes Zeichen für eine Gesellschaft, wenn diese Fürsorge nicht zumindest auch teilweise in Familie und Nachbarschaft erfolgen würde. Die von Ihnen genannten Herausforderungen bestehen ohne Zweifel. Ich habe jedoch das Gefühl, dass das Thema zunehmend in der Gesellschaft und der Politik angekommen ist. Und letztlich verleihen zahlreiche Sozial- bzw. Betroffenenverbände pflegenden Angehörigen auch eine „politische Stimme“ und bringen die Interessen und Belange auch in die Pflege-Selbstverwaltung ein, beispielsweise in den Pflege-Qualitätsausschuss.

…daran anknüpfend: Wird aus Ihrer Sicht genug getan, um pflegende Angehörige zu unterstützen? Wo bieten sich hier Reformen an?

Der Gesetzgeber hat den hohen Stellenwert der Angehörigenpflege erkannt und auch die Pflegeversicherung entsprechend ausgestaltet. Letztlich zielen nicht nur Leistungen wie Kurzzeit- und Verhinderungspflege auf eine Entlastung ab, sondern auch Leistungen wie Beratungseinsätze, Pflegekurse, Netzwerkförderung, Entlastungsangebote und – nicht zuletzt – die bereits thematisierte Rentenabsicherung von pflegenden Angehörigen. Auch ohne weitere Reformen bestehen bereits heute zahlreiche Anknüpfungspunkte, um die Situation von pflegenden Angehörigen wirksam zu verbessern.

Ein Problem, mit dem ich selbst als Angehöriger konfrontiert war: Oft fehlt im ländlichen Raum die Pflege-Infrastruktur. Es gibt nicht genügend ambulante Pflegedienste. Und ein Rechtsanspruch auf Verhinderungspflege hilft nichts, wenn niemand die Vertretung übernehmen kann und alle Pflegeheime belegt sind. Gibt es Bestrebungen, die Pflege-Infrastruktur im ländlichen Raum zu stärken? Wie können die Krankenkassen hier einen Beitrag leisten?

Die Pflegekassen haben einen Kontrahierungszwang – das heißt, sie müssen alle Pflegeeinrichtungen zulassen, welche die entsprechenden Voraussetzungen erfüllen. Hiervon kann keine Steuerungswirkung ausgehen. Die Länder sind stattdessen gefragt, auf eine ausreichende Pflege-Infrastruktur hinzuwirken. Als Steuerungsmittel dient den Ländern beispielsweise die Investitionskostenförderung.

Viele zukünftige Senioren haben keine Angehörigen, die sie pflegen könnten. Der Anteil voll-stationärer Unterbringungen wird wohl steigen: damit steigen auch die Kosten. Ist Deutschland darauf ausreichend vorbereitet?

Grundsätzlich haben wir den Eindruck, dass die Pflegebranche bzw. der Immobilienmarkt in Deutschland auf die steigende Nachfrage reagiert und entsprechende Angebote auch schafft. Bei der Beurteilung sollten wir den Blick nicht nur auf klassische Alten- bzw. Pflegeheime richten, sondern auf alle Angebote, die ein möglichst selbstständiges Leben mit Pflegebedarf ermöglichen. Die Pflegeversicherung bietet mit ihren ambulanten und stationären Leistungen eine Finanzierungsgrundlage für unterschiedlichste Wohnformen. Dazu zählen beispielsweise auch das Service-Wohnen oder Wohngemeinschaften. Unabhängig vom Immobiliensektor bleibt es aber die wesentliche Herausforderung, auch zukünftig ausreichend Hilfs- und Fachkräfte zu gewinnen, welche die Versorgung in den Wohnformen dann auch tatsächlich übernehmen.

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Hinweis: Der Text erschien zuerst im kostenlosen Versicherungsbote Fachmagazin 01/2022.

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