Mit knapp 30 Milliarden Euro Beitragsvolumen ist die Kfz-Versicherungssparte weiterhin mit Abstand die größte Sparte in der Schaden- und Unfallversicherung der deutschen Versicherungswirtschaft. Zwar fiel der Beitragsanstieg mit rund 2,5 Prozent um etwa einen Prozentpunkt geringer aus als im Vorjahr und die Schaden-Kosten-Quote kletterte laut GDV auf 98,0 Prozent. Dennoch bleibt die Sparte für Versicherer profitabel (klammert man das Flottengeschäft aus).

Anzeige

Und diese Profit-Spanne könnte noch ausgebaut werden. „Die Telematiktechnik hat einen hohen Reifegrad zu geringen Stückkosten erreicht. Auch stehen vereinfachte Vertriebsoptionen durch weniger Tarifmerkmale zur Verfügung - bei zugleich höherer Risikodifferenzierung“, sagt Onnen Siems, Geschäftsführer der Meyerthole Siems Kohlruss (MSK) GmbH. Die Gesellschaft für aktuarielle Beratung sieht Telematik als eine Art Plattform für Zusatzdienste, beispielsweise Parkplatzsuche, Bonusprogramme oder situative Versicherungen.

Heilsversprechen Telematik: Endlich ein bisschen sexy

Das trifft nicht nur den Nerv vor allem jüngerer Autofahrer, sondern könnte für Versicherer noch mehr bedeuten: Mit solchen Zusatzdiensten könnten Versicherer die digitalen Kontaktpunkte zu Kunden ausbauen, Mehrwert bieten, ohne auf den (teuren) Schadenfall angewiesen zu sein. Das Produkt „Versicherungsschutz“ könnte etwas von seinem spröden Charme verlieren; endlich ein bisschen „sexy“ werden.

Anzeige

Stimmt, dieses Heilsversprechen der Telematik ist nicht neu. Seit Jahren ist das Thema präsent, doch bisher hätten technische Lösungen nicht überzeugt: „Weder ODB2-Stecker noch teure Stecker im Zigarettenanzünder erscheinen den Meisten als gangbarer Weg. Das gleiche gilt für reine App-Lösungen sowie oberflächliches und/oder intransparentes Telematikscoring. Hinzu kommen datenschutzrechtliche Vorbehalte“, fasst Siems die Argumente der Skeptiker zusammen. Auch die Vergleichbarkeit der Telematik-Tarife erweist sich als schwierig. „Besonders bei den Themen Rabatt, Rabattformen und Messkritierien für das Fahrverhalten zeigt sich der Markt sehr heterogen“, so Arndt von Eicken, Managing-Analyst bei Assekurata. Und die Anbieter haben mitunter noch andere Schwierigkeiten: So sprang der Gothaer im März 2020 ihr Partner EMIL ab und insgesamt sank die Zahl der Telematik-Anbieter: von 14 (2017) auf neun (2019).

Megatrends im Kfz-Markt: Telematik und autonomes Fahren

Trotz dieser Schwierigkeiten ist der Glaube an die Megatrends Telematik und autonomes Fahren im Kfz-Bereich ungebrochen. Zumindest unter den Entscheiden und Managern von Kfz-Versicherungen. Das zeigte eine Umfrage, die im Rahmen einer Tagung zur Zukunft des Kfz-Versicherungsmarktes durchgeführt wurde. An der gemeinsamen Veranstaltung von SCOR Rückversicherung Deutschland und MSK nahmen mehr als 200 Branchenprofis teil, die 98 Prozent des deutschen Kfz-Marktes repräsentieren.

Demnach halten jeweils 35 Prozent der Teilnehmer Telematik und autonomes Fahren für die wichtigsten Trends im Kfz-Bereich. Während Telematik oft als Übergangstechnologie gilt, verbindet sich für viele mit dem autonomen Fahren keine lineare Weiterentwicklung der Branche, sondern ein Umbruch. Als weitere Punkte wurden genannt:

Anzeige

  • Car-Sharing (20%)
  • Elektromobilität (20%)
  • Digitalisierung (20%)
  • Tarifierung (13%)
  • Mobilität (13%)
  • Schaden (13%)

Weitere Anmerkungen der Teilnehmer lassen darauf schließen, dass die Bedeutung von Versicherungsmathematik zunimmt und die Automatisierung der Schadenauswertung eine zentrale Rolle einnimmt.

Kein Wunder also, dass einige Versicherer ihre Telematik-Bemühungen nach vorn bringen wollen: So stieg Ergo zu Jahresbeginn in den Markt ein, auch die Bayerische verfolgt solche Pläne ebenso wie die DEVK. Der neue Kfz-Tarif der Basler bietet auch Deckungsschutz bei Schäden, die durch teilautonomes Fahren oder Hackerangriffe auf das Auto ausgelöst wurden. Der Versicherer setzt dabei auf das Verwaltungssystem Guidewire, um den Gesamtprozess von der Tarifierung bis zur Schadenbearbeitung zu digitalisieren. Einen Schritt weiter ist die VHV: dort wurden bereits 500.000 Schadenfälle mit dem Guidewire-Schadensystem bearbeitet und alle Kfz-Schadensachbearbeiter nutzen mittlerweile das System. Im Juli 2020 wurden 2,3 Millionen Schadenakten (offene und geschlossene) vom alten VHV-Schadensystem erfolgreich auf das Guidewire ClaimCenter migriert. Die VHV ist damit der erste deutsche Versicherer, der eine Kfz-Schadenmigration auf Guidewire erfolgreich abgeschlossen hat.

Anzeige

Gefahr der Negativselektion

Doch besteht tatsächlich Anlass für alle Versicherer, das „Hohelied der Telematik“ anzustimmen? Die Segnungen der neuen Technik scheinen doch recht einseitig verteilt: Denn von den über 500.000 Telematikpolicen, die es mittlerweile am deutschen Markt gibt, sind nach Aussage von Siems über 90 Prozent bei den beiden Marktführern Allianz und HUK.
Der Analyst sieht deshalb die Gefahr von Negativselektion steigen. Mit anderen Worten: Versicherer, denen es jetzt nicht gelingt, wettbewerbsfähige Telematik-Tarife erfolgreich zu platzieren, müssen wohl in Zukunft mit jenen Risiken vorlieb nehmen, die der Markt ihnen übrig lässt. Diese Aussicht erhöht den Erfolgsdruck ungemein.

Seite 1/2/

Anzeige