Versicherungsbote: Einige Versicherer haben bereits sogenannte Pay-as-you-live-Tarife auf den Markt gebracht. Was spricht aus Ihrer Sicht für diese Art von Tarifen?

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Robin Kiera: Das Verhalten fast aller Kundensegmente hat sich in den letzten 10 Jahren radikal verändert. Viele sind nicht mehr bereit, für Produkte und Services zu bezahlen, die sie nicht wünschen. So kaufen wir einzelne Songs als MP3 und keine Alben mehr oder mieten auf uns zugeschnittene Musik bei Spotify. Viele verwenden lieber Uber oder Car2Go anstatt ein eigenes Auto, dass sie in 90 Prozent der Lebenszeit nicht verwenden. Sicher haben diese Veränderung noch nicht alle Landesteile und Bevölkerungsschichten erreicht, aber wir sehen eine andere Erwartungshaltung der Kunden auch Versicherern gegenüber. Aus diesem Grund glaube ich, dass es nicht mehr lange durchgehalten werden kann, Pay-as-you-live-Tarife zu verweigern oder mit schlechten Benefits auszustatten.

Hier hilft ein Blick auf andere Märkte. In Italien etwa feiert Telematics schon seit Jahren große Erfolge - mit rund 20 Prozent Marktanteil. Wer ein Telematics-Gerät in sein Auto einbaut oder seine Lebensweise für einen Fitnesstracker offen legt, erwartet allerdings eine deutliche Beitragsreduzierung und einen großen Benefit - für sich, nicht für den Versicherer. Ich habe den Eindruck, dass die deutsche Assekuranz es scheut, die Dose der Pandora zu öffnen.

Welche Absicherungen könnten damit in Zukunft umgesetzt werden?

Letztlich führen Pay-As-You-Live-Tarife zu einem Sinken der Beiträge. Vor allem informierte Kunden mit positivem Risikoprofil werden vermehrt individualisierte Absicherungen und Prämien verlangen, die ihrem Verhalten entsprechen. Letztlich erfasst das alle Sparten: In der Kranken- und Lebensversicherung kann positives Verhalten belohnt werden. In der Sachversicherung kann die Installation eines Smart-Home-Systems zu niedrigeren Beiträgen führen. Die Bayerische Versicherung beispielsweise bietet heute schon solche Produkte - in Verbindung mit geprüfter Hardware.

Julian Teicke, CEO von WeFox, kündigte auf der diesjährigen Global Insurtech Roadshow in Frankfurt an, er wolle durch Geolocation-Daten eine Abomodell für Versicherungen anbieten, die getriggert sind und automatisches An- und Ausschalten erlauben. Auch wenn noch nicht alle Details bekannt sind, stelle ich mir das folgendermaßen vor: Ich fahre beim Flughafen vor und erhalte eine Push-Nachricht, ob aufgrund des anstehenden Fluges meine Unfall-, Risikolebens- und Auslandsreisekrankenversicherung angeschaltet bzw. erhöht werden sollen. Ich kann mir auch vorstellen, dass dies später im Autopilot-Modus passiert. Anstatt auf Nachfrage des Kunden, schalten sich die Versicherungen automatisch an und ab.

Welche Chancen bieten diese Modelle?

Kunden mit positiven Risikoprofil oder individuellen Anforderungen an ihren Versicherungsschutz werden deutlich geringere Beiträge und passgenauere Produkte erwarten können. Wer braucht in der Hausratversicherung noch den Schutz vor Wäscheklau? Das war vielleicht einmal in den 1950er Jahren relevant. Doch heute wollen Kunden aktuelle Risiken - etwa Cyber - abgesichert haben. Pay-as-you-live muss und wird dies abdecken.

Für Versicherer bietet dieser Ansatz keine Gefahr. Sinkende Prämien sollten keine Schockstarre oder Verteidigungshaltung auslösen, sondern dazu dienen mit voller Kraft vorauszugehen. Denn wenn wir dem Kunden genug Vorteile bieten, wird er uns wertvolle Daten zur Verfügung stellen. Diese Daten - etwa Bewegungsprofile, Kontotransaktionen nach PSD2, Social Media Accounts, Lebensstile - könnten Ausgangspunkt sein, dem Kunden digitale Produkte und Services zu bieten, die weit über Verkauf, Vertragsbetreuung und Schadenabwicklung hinausgehen.

Warum schlagen wir dem Kunden vor Reisen keine Hotels vor, reservieren einen Mietwagen am Ankunftsort oder informieren ihn über Optimierungen seines Vermögens? Warum sollten wir dies den Technologie-Giganten aus den USA oder China überlassen? Noch ist diese Kundenschnittstelle nicht fest besetzt. Warum sollten nicht pfiffige Versicherer diese Chance ergreifen?

Die Allianz hat sich mehrfach gegen sogenannte Pay-as-you-live-Tarife ausgesprochen, unter anderem in der privaten Krankenversicherung. Warum verschließen sich viele Unternehmen dem Thema?

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So sehr ich meinen früheren Arbeitgeber schätze, hier muss ich sagen: Wenn ein Güterzug auf einen zurollt, kann man sich bockig auf die Gleise stellen und in der Überschätzung der eigenen Stärke glauben, man kann ihn abprallen lassen oder man versucht auf ihn aufzuspringen. Ich habe den Eindruck, viele in der Assekuranz ziehen ersteres vor - auch aus ganz berufsbiographischen Gründen, da sie nur noch ein oder zwei Vorstandsmandate bis zur Pension haben. Vielleicht werden sie nicht persönlich von diesem Zug erwischt, aber ihre Nachfolger umso härter. Daher ist es so wichtig, sich jetzt auf die richtige Seite der Geschichte zu stellen und die Chancen zu nutzen - auch wenn es in den nächsten 2-5 Jahren vielleicht ein wenig anstrengender ist.

...dafür braucht man vielleicht nur 20-30 Prozent der Belegschaft!

Versicherungsbote: Warum müssen Versicherer künftig mehr sein als nur Schadenregulierer?

Robin Kiera: Es besteht keine zwingende Notwendigkeit mehr als nur Schadenregulierer zu sein - wenn man den massiven Verlust an Umsatz, Gewinn und Arbeitsplätzen in einigen Jahren akzeptiert. Es gibt jetzt schon Versicherungsvorstände, die sich selbst öffentlich dazu bekennen, sich auf ihre “Kernkompetenz” konzentrieren zu wollen. Was allerdings meist nicht erwähnt wird, dass man dafür vielleicht noch 20-30 Prozent der Belegschaft braucht.

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Ich sehe gerade eine große Chance für Akteure, die kurzfristig den anstrengenden Weg gehen, um mittelfristig aus den neuen Produktkonzepten und Technologien enorme Umsätze und Gewinne zu erwirtschaften. Wer es schafft - wie etwa das chinesische WeChat - die Herzen und Homescreens seiner Kunden dauerhaft mit begeisternden digitalen Produkten und Services zu erobern, dessen Wachstum wäre grenzenlos. Wer seinen Kunden ganze Ökosysteme an nützlichen Services zur Verfügung stellt, kann zum täglichen und vertrauten Begleiter werden. Wir sehen erste - vor allem mittelständische Versicherer - in Deutschland, die diesen Weg gehen.

Unternehmensberater wie McKinsey warnen, traditionelle Versicherer könnten langfristig überflüssig werden, weil Konzerne wie Amazon oder Google über ausreichend und umfangreichere Daten potentieller Kunden verfügen, um selbst Versicherungen anzubieten. Warum muss die Branche Angst haben?

Ich werde gelegentlich gebeten, Pitches oder Abschlusspräsentationen von “Top-Management”-Beratungen beizuwohnen. Das Fehlen selbst grundlegender versicherungsfachlicher Kenntnisse sowie die völlige Abwesenheit von Wissen über aktuellen Trends und Technologien, kann selbst selbstsicheres Auftreten und B**-Bingo nicht mehr kaschieren. Deswegen kaufen diese ehemals führenden Unternehmen ja derzeit eine Kreativ- und Start-Up-Agentur nach der anderen. Aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen würde ich den häufig erheiternd kenntnisfreien Aussagen dieser Firmen wenig beimessen.

Allerdings ist es in der Tat so, dass der Einstieg vor allem von Amazon in die Versicherungswirtschaft dazu führen kann, dass sich der Gigant aus Seattle auch in dieser Branche zwischen Produktanbieter und Kunde schiebt. Noch bliebe Zeit selber zu handeln. Allerdings müssten wir langsam aus dem Quark kommen.

Der Online-Makler Check24 hat nach eigenen Aussagen rund 15 Millionen Kunden und eine breite Palette von Apps und Dienstleistungen. So können Kunden unter anderem einen Kündigungsdienst nutzen, Reisen buchen oder eben Versicherungen abschließen. Welche Möglichkeiten bieten sich bei so einem großen Kundenstamm und dem Wissen über Konten, Kredite, Reisen usw.?

Wer es schafft, die Herzen, Hirne und Homescreens der Kunden durch nützliche digitale Produkte und Services zu besetzen und sich zwischen Produktgeber und Kunde zu schieben, wird unermessliche Umsatzströme erzielen können.

Ich frage mich nur, warum so wenige in der Versicherungswirtschaft in Deutschland dies als Chance nutzen, es selber zu tun. Dennoch sind die Würfel nicht gefallen. Noch hat Amazon oder Google nicht zum finalen Endschlag ausgeholt. Noch könnten wir dies - auch aufgrund unseres eigenen Wissens über Kunden, Schäden und Risiken - selber tun. Packen wir es an!

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Die Fragen stellte Jenny Müller

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