„Mehr Fortschritt wagen“. So überschrieb das Ampelbündnis seinen Koalitionsvertrag im Jahr 2021. Auf immerhin über acht Seiten wurden die Themen Gesundheit und Pflege behandelt. Im Kontext des Pflegenotstandes wurde mit Spannung erwartet, wie eine stabile Finanzierung des Systems erreicht werden könne. Immerhin sollte inzwischen jeder erkannt haben, dass ein „weiter so“ nicht funktionieren wird.

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Micha Hildebrandt

Micha Hildebrandt

Micha Hildebrandt ist Vorstand bei der vigo Krankenversicherung VVaG. Das Unternehmen aus Düsseldorf gilt als Erfinder des flexiblen Pflegetagegeldes. Hildebrandt absolvierte seinen Zivildienst in der ambulanten Pflege und schenkt diesem Thema seither besondere Aufmerksamkeit.

„Wenn du nicht mehr weiter weißt, gründe einen Arbeitskreis.“

Um Lösungen für eine strukturelle Finanzierungsreformen im Sinne einer Generationengerechtigkeit zu finden, sollte eine Regierungskommission zusammentreten. Das Problem: Diese Kommission ist noch immer nicht eingesetzt worden. Eine echte Reform, wie sie notwendig wäre, ist also nicht in Sicht.

Ohnehin scheint der angedeutete Arbeitsauftrag an Lebenswirklichkeiten vorbeizugehen.

Nach Vorstellung der Koalitionspartner solle die soziale Pflegeversicherung um eine freiwillige, paritätisch finanzierte Vollversicherung ergänzt werden, welche die Übernahme der vollständigen Pflegekosten umfassend absichert.

Aber steht hier nicht ein entscheidender Denkfehler einer echten Lösungsfindung im Weg? Pflege ist höchst individuell. Wie bitte schön soll die Übernahme der „vollständigen Pflegekosten“ realisiert werden? Da grundsätzlich jeder Mensch entscheiden kann, welche Pflegeart mit welcher Qualität und welcher Taktung beauftragt wird, schwingt – ohne Konkretisierung des Rahmens – die Gefahr einer weiteren Kostenexplosion im System mit.

Exkurs: Für die gesamte Sozialversicherung bzw. die einzelnen Sozialversicherungszweige besteht der Grundsatz der Wirtschaftlichkeit.

Mit § 12 Abs. 1 SGB V wird geregelt, dass die Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein müssen. Die Leistungen dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten.

Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind,

  • können Versicherte nicht beanspruchen,
  • dürfen Leistungserbringer nicht bewirken und
  • die Krankenkassen nicht bewilligen.

Wenn also künftig eine „Pflegevollversicherung“ im System verankert werden sollte, müsste übertragen auf das SGB XI (Soziale Pflegeversicherung), in einem komplexen Regelwerk definiert werden, welche Hilfestellungen bei eingeschränkter Selbständigkeit zweckmäßig und wirtschaftlich sind. Zudem müsste dies bei jedem einzelnen zu pflegenden Menschen für jede einzelne Maßnahme (z.B. Waschen, Duschen, Baden, Mobilisation, Gabe von Mahlzeiten, Hilfestellung beim Verlassen der Wohnung oder anderen Tätigkeiten, Hauswirtschaftsvorgänge usw.) individuell geprüft werden, ggf. mehrmals im Jahr. Utopisch.

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Bestenfalls könnte man – im Sinne einer Gleichheitsbetrachtung – einen extrem niedrigen Standard definieren. Und selbst dies ließe sich vermutlich eher im stationären Bereich, aber wohl kaum im ambulanten Bereich umsetzen, welcher mit rund 75 % Anteil die dominante Pflegeart darstellt.

40-Prozentmarke geknackt – und jetzt noch eine Pflegevollkasko?

In einer alternden Gesellschaft, in welcher immer weniger Einzahler auf immer mehr Leistungsbezieher treffen, ist die gewünschte Höchstmarke bei den Sozialversicherungsbeiträgen von 40 Prozent nun überschritten worden. In den Vorjahren hielt man den Wert künstlich durch Milliardenzuschüssen aus Steuermitteln für die Renten,- Kranken- und Pflegeversicherung knapp unter diesem Schwellenwert.

Lange gab es Diskussionen darum, diese Grenze im Grundgesetz festzuschreiben. Umgesetzt wurde dies freilich nie, obgleich die Politik zum Wohle des Wirtschaftsstandortes Deutschland und der arbeitenden/einzahlenden Bevölkerung weiter laufend beteuert, die Beiträge nicht ausufern lassen zu wollen.

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Der reflexartige Ruf nach einer durch den Staat finanzierten Pflegevollkasko ist aus dem Blickwinkel des Sozialstaatsprinzips ohnehin nicht mehr nachvollziehbar. Die Sozialstaatlichkeit setzt eine entsprechende Leistungsfähigkeit und -kraft voraus. Da diese Voraussetzungen nur begrenzt vorliegen, besteht die Gefahr einer wirtschaftlichen Überforderung. Um individuelle Verantwortung nicht schon per se auszublenden, ist der Staatsbeitrag zu dosieren, damit ein Gleichgewicht zwischen kollektiver Vorsorge und individueller Eigenverantwortung bestehen bleibt.

Es reicht schon der Blick auf das Bildungssystem, um zu erkennen, dass dort umfassend investiert werden muss. Das gilt sowohl für die schulische als auch die berufliche Bildung – gerade auch in der Pflege. Was bringt uns die tollste im Sozialgesetzbuch festgelegte Pflegeabsicherung, wenn diese

  • nur „auf Pump“ funktioniert und
  • ohnehin die Pflegekräfte fehlen, um das theoretisch Gewollte für die Pflegebedürftigen zu ermöglichen?

Das System der 1995 eingeführten Teilkasko-Logik ist aus meiner Sicht zeitlos gut. Eine gewisse Grundabsicherung – gedeckelt durch Höchstsummen je nach Pflegegrad – verbunden mit dem Hinweis, dass nur durch eigene Vorsorge ein individuell gewünschter Pflegestandard finanziert werden kann, bringt Systemstabilität. Versicherungsvermittler obliegt die wichtige Aufgabe, die Möglichkeiten und Vorteile der kapitalgedeckten privaten Vorsorge darzulegen. Die Politik hält hier keine Lösung bereit und es wäre unverantwortlich auf Derartiges zu warten.

Eckdaten zur Pflegereform 2023/2024

Nachdem die obigen Gedanken dem galten, was bislang nicht umgesetzt wurde, folgt nun die Zusammenfassung der geplanten Beitragssatzanpassung zur Sozialen Pflegeversicherung (SPV) ab Juli 2023 und der geldlichen Mehrleistungen an Januar 2024:

  • SPV-Beitragsanstieg um 0,35 Prozentpunkte auf insgesamt 3,4 Prozent
  • Zuschlag für Kinderlose um 0,25 auf 0,6 Prozent auf dann insgesamt 4,0 Prozent (Hintergrund ist eine Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts, dass eine Beitragsdifferenzierung je nach Kinderzahl zu erfolgen hat)
  • Eigenanteilreduzierung im Pflegeheim: für die reine Pflege künftig im ersten Jahr um 15 statt 5 Prozent, im zweiten um 30 statt 25 Prozent, im dritten um 50 statt 45 Prozent und ab dem vierten Jahr um 75 statt bisher 70 Prozent
  • Pflegegeld wird um 5 % erhöht

Die Eigenteilreduzierung darf als Mogelpackung bezeichnet werden, da für die Heimbewohner beispielsweise noch die Zahlungen für Unterkunft und Verpflegung hinzuzurechnen sind.

Seit der letzten Anpassung der Leistungen für Pflegegeld im Jahr 2017 sind die Kosten für Pflege explodiert. Nach Schätzung der Deutschen Stiftung Patientenschutz betrug die Teuerung alleine in den letzten fünf Jahren über 40 Prozent.

Auch ohne Nutzung eines Taschenrechners wird klar, dass die Eigenbeteiligungen weiter enorm ansteigen und die Reform zu 2024 nicht zu einer spürbaren Verbesserung führt.

Der Weg in die Mehrklassenpflege

Die Lage der Pflege in Deutschland ist kritisch. Hierzulande droht nach Ansicht des Arbeitgeberverbandes Pflege (AGVP) eine Pleitewelle in der stationären Pflege. Man kann es auch konkretisieren: Die Welle ist bereits am Rollen, in der letzten Zeit mussten wegen finanzieller Schwierigkeiten zahlreiche Heime Insolvenz anmelden, auch von namhaften Betreibern wie Convivo und Curata. Pflegeheime leiden unter steigenden Kosten bei sinkenden Erlösen.

AGVP-Verbandspräsident Thomas Greiner fordert, man müsse wegen der fehlenden Fachkräfte die "unrealistischen Personalschlüssel für Heime abschaffen".

Das bisher relativ hohe Qualitätsniveau in der Pflege darf offenbar nicht mehr als selbstverständlich hingenommen werden. Der Mindeststandard wird demnach weiter absinken.

Aufgrund des Fachkräftemangels und Kostensteigerungen lässt sich dies entsprechend auf die ambulante Pflege übertragen.

Fazit / Appell

Was heißt das also für die Zukunft? Wer es sich leisten kann, wird menschenwürdig versorgt. Alle anderen müssen darauf hoffen, dass Wunder geschehen.

Eigenverantwortung wird umso wichtiger und die Versicherungsbranche muss eine tragende Rolle dabei einnehmen. Mein Appell an alle Vermittler:

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Sprecht mit Euren Kunden über die Entwicklungen in der Pflege und die Möglichkeiten zur Vorsorge! Nutzt Tools wie www.pflegeplan.de und www.vigopflegerechner.de zur Bedarfsermittlung und Unterbreitung einer kapitalgedeckten Absicherung!

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