Allerdings sei auch daran erinnert: Selbst, wenn die Parteien mit ihrem Koalitionsvertrag ihre Mitglieder überzeugen können, müssen die Ziele noch lange nicht umgesetzt werden. Anschaulich wird dies ausgerechnet am Ausbleiben der Riester-Reform während der 19. Bundestags-Legislaturperiode.

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Vieles erscheint in der Möglichkeitsform

Viel haben sich die Politiker von SPD, Grünen und FDP vorgenommen, falls es ihnen gelingt, die nächste Regierungskoalition zu stellen. Das zeigt der 177 Seiten dicke Koalitionsvertrag. Freilich: Ein zweiter Blick zeigt aber auch, dass viele gut klingenden Ziele in die Möglichkeitsform verklausuliert werden – so etwa, wenn die „Nutzung der Schiene günstiger werden“ soll, sofern es „haushalterisch machbar“ ist.

Auch sollen wichtige Ziele zunächst „geprüft“ werden – zum Beispiel, „ob die soziale Pflegeversicherung um eine freiwillige, paritätisch finanzierte Vollversicherung ergänzt wird.“ Eine solche Prüfung führt nicht zwingend zur Umsetzung – die Ampelkoalition hält sich mit solchen Formulierungen auch ein Hintertürchen offen, um möglicherweise von zu schwierigen Projekten Abstand zu nehmen.

Riester-Rente zeigt: Nicht immer wird Wichtiges umgesetzt

Denn dass ehrenwerte Ziele aus Koalitionsverträgen nicht zur Umsetzung führen müssen, weiß die Versicherungenbranche zu gut – die für die 19. Legislaturperiode durch die große Koalition versprochene Riester-Reform blieb aus. Auch andere Ziele aus dem Koalitionsvertrag der Großen Koalition – zum Beispiel die Einführung einer Vorsorgepflicht für Selbstständige – blieben aus. Zudem zeigte der Hick Hack um die Grund- bzw. Respektrente, dass auch im Koalitionsvertrag festgeschriebene Ziele mitunter viel Konfliktpotenzial bergen.

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Es bleibt also spannend für die Frage, welche Ziele des Koalitionsvertrags der Ampelkoalition tatsächlich umgesetzt werden. Versicherungsbote hat noch einmal wichtige Ziele der Sozial- und Finanzpolitik zusammengefasst. Der zugrunde liegende "Fahrplan" der Ampelkoalition ist auf den Webseiten der Parteien – hier zum Beispiel auf der Webseite der Grünen – verfügbar.

Pläne zur Steuerpolitik

Liest man Pläne zu den Steuern, wird das Ringen um Kompromisse für den Koalitionsplan deutlich. Die FDP hat sich durchgesetzt mit ihrem zentralen Versprechen an die Wähler, keine Steuererhöhungen zuzulassen. Aber Steuerkriminalität soll in Zukunft stärker bekämpft werden – hier zeigt sich eine deutliche Handschrift der Grünen:

  • So möchte man "das strategische Vorgehen gegen Steuerhinterziehung, Finanzmarktkriminalität und Geldwäsche" im Bundesfinanzministerium "organisatorisch und personell stärken".
  • Auch plant man Maßnahmen, um steuerlichen Schlupflöcher beim Immobilienerwerb von Konzernen zu schließen (Share Deals).
  • Ein bundesweit einheitliches Meldesystem soll eingeführt werden für die Erstellung, Prüfung und Weiterleitung von Rechnungen. Hierdurch will man die Betrugsanfälligkeit des Mehrwertsteuersystems erheblich senken.

Ansonsten erscheinen Steuern vielfach als Förderinstrument, um ökologische und auch sozialpolitische Ziele zu erreichen. Als Beispiel: Zuschläge von Pflegepersonal sollen von Steuern befreit werden, um Pflegeberufe attraktiver zu machen. Weitere steuerpolitische Pläne sind:

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  • Der Sparer-Pauschbetrag für Einkommen auf Kapitaleinkünfte soll von 810 Euro auf 1.000 Euro erhöht werden.
  • Steuerrechtliche Erleichterungen soll es auch im Kampf gegen Lebensmittelverschwendung geben – diese Maßnahme zielt wohl auf eine Förderung von Lebensmittelspenden.
  • Bis zur Einführung einer Kerosinsteuer will sich die Ampelkoalition zudem dafür einsetzen, auch europaweit eine Luftverkehrsabgabe einzuführen, wie sie in Deutschland bereits erhoben wird. Aufgrund der Corona-Krise will man über dieses heikle Thema aber erst ab 2023 beraten – haben doch auch die Fluggesellschaften mit den Auswirkungen der Pandemie schwer zu kämpfen.
  • Geplant ist zudem ein Forschungsinstitut, das Steuerregelungen evaluiert, aber auch durch Studien hilft, Steuerhinterziehung zu verhindern.

Sozialpolitik: Einführung eines Bürgergelds statt Hartz IV

Ampel-Pläne zur Sozialpolitk lesen sich wie eine Teil-Korrektur von Hartz IV. So soll ein Bürgergeld eingeführt werden – der Koalitionsvertrag grenzt dieses explizit von der "bisherigen Grundsicherung (Hartz IV)" ab. Das Bürgergeld wird laut den Plänen in den ersten beiden Jahren ohne Anrechnung des Vermögens gewährt. Auch die Wohnung wird in dieser Zeit anerkannt. Zudem soll das Schonvermögen erhöht werden.

Verschiedene Maßgaben des Koalitionsvertrags zeigen, dass ein Bürgergeld als verfassungsgemäßere Version der älteren Grundsicherung gedacht ist und Schritte der sozialen Stabilisierung und Teilhabe mehr als bisher in den Mittelpunkt rücken will. Alle Karten auf ("Weiter-") Bildung – so könnte man verschiedene Ansätze zum Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II) pointieren:

  • Demnach soll der Vermittlungsvorrang im SGB II abgeschafft werden.
  • Die Förderung der Weiterbildung und Qualifizierung hingegen wird laut Plan gestärkt. Es heißt im Papier: "Die Prämienregelung bei abschlussbezogener Weiterbildung werden wir entfristen. Wir fördern vollqualifizierende Ausbildungen im Rahmen der beruflichen Weiterbildung unabhängig von Dauer und Grundkompetenzen, auch im Umgang mit digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien."
  • Zuverdienstmöglichkeiten für die Empfänger des zukünftigen Bürgergelds sollen außerdem verbessert werden mit dem Ziel, Anreize für sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit zu erhöhen.
  • Selbstständige sollen erleichterten Zugang zur freiwilligen Arbeitslosenversicherung finden – geprüft werden soll unter anderem, ob ein Zugang ohne Vorversicherungszeit möglich ist.

Moratorium für Hartz IV-Sanktionen

Kosten der Unterkunft sollen von Hartz-IV-Sanktionen ausgenommen werden und Unter-25-Jährige gleich behandelt werden wie die Älteren. Überhaupt möchte die Ampel ein Moratorium für die jetzige Sanktionspraxis: So lange, bis gesetzlichen Neuregelungen den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts entsprechen. In 2019 hatte das Bundesverfassungsgericht Sanktionen für teilweise verfassungswidrig erklärt (Versicherungsbote berichtete).

Weitere sozialpolitische Ziele sind:

  • eine Anhebung des Mindestlohns auf zwölf Euro;
  • eine Erhöhung der Mini- und Midi-Job-Grenze auf 1.600 Euro;
  • eine verbesserte Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch ein Zulagen- und Gutscheinsystem, das dazu dient, haushaltsnahe Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen.

Pläne für die Krankenversicherung

Die Ampelkoalition bekennt sich „zu einer stabilen und verlässlichen Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung“. So will man höhere Beiträge für die Bezieherinnen und Bezieher von Arbeitslosengeld II aus Steuermitteln zahlen. Auch setzt man auf Kostensenkung: Möglichkeiten der Krankenkassen zur Begrenzung der Arzneimittelpreise sollen gestärkt werden. Weitere Pläne für die gesetzliche Krankenversicherung sind:

  • Anhand von gesetzlichen Mindestkriterien sollen die gesetzlichen Krankenkassen zukünftig ihre Service- und Versorgungsqualität offenlegen.
  • Die Kassen sollen verstärkt die Möglichkeit erhalten, auch monetäre Boni für die Teilnahme an Präventionsprogrammen zu gewähren.
  • Geplant ist zudem ein Selbstbestimmungsgesetz, das vorsieht: Kosten geschlechtsangleichender Behandlungen müssen vollständig von der GKV übernommen werden.
  • Einer der wichtigsten Pläne betrifft die Entlastung von Selbständigen: Beiträge für Selbständige zur gesetzlichen Krankenversicherung sollen oberhalb der Minijobgrenze nur noch strikt einkommensbezogen erhoben werden.

Wenig zur PKV, aber Festhalten am dualen System

  • Lange stand die Gefahr einer Bürgerversicherung im Raum – offensiv in Stellung gebracht durch SPD und Grüne im Wahlkampf. Die Branche aber darf aufatmen: Unter Beteiligung der FDP ist das duale System gerettet. Ideen einer Bürgerversicherung finden sich nicht im Koalitionspapier.
  • Somit enthält der Koalitionsfahrplan erstaunlich wenig zur privaten Krankenversicherung. Erwähnt wird einzig: Für Kinder und Jugendliche in der privaten Krankenversicherung soll zukünftig das Prinzip der Direktabrechnung gelten

Pläne zur Rentenversicherung

Liest man Pläne zur gesetzlichen Rentenversicherung, scheint man an der "doppelten Haltelinie" der Großen Koalition festhalten zu wollen:

  • Rentenkürzungen soll es ebenso wenig geben wie Beitragserhöhungen. Auch die Ampelkoalition möchte das Mindestrentenniveau bei 48 Prozent dauerhaft sichern. In der neuen Legislaturperiode soll der Beitragssatz zudem nicht über 20 Prozent steigen.
  • Eine Änderung aber gibt es gegenüber der Haltelinie der Großen Koalition: Der Nachholfaktor in der Rentenberechnung soll rechtzeitig vor den Rentenanpassungen ab 2022 wieder aktiviert werden. Dieser sichert zu, dass zwar die Renten auch dann nicht gekürzt werden, wenn sie gemäß Rentenanpassungsformel sinken müssten. Allerdings wird die Rentenkürzung zu der Bedingung ausgesetzt, dass spätere Rentenerhöhungen halbiert werden, um die unterbliebene Anpassung zulasten der Beitragszahler im Nachhinein wieder auszugleichen. Die Große Koalition hatte den Nachholfaktor außer Kraft gesetzt (Versicherungsbote berichtete).
  • Eine Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters soll es nicht geben – Status Quo bleibt die Rente mit 67. Jedoch will die Koalition "in einen gesellschaftlichen Dialogprozess darüber eintreten", wie Wünsche nach einem längeren Verbleib im Arbeitsleben "einfacher verwirklicht werden können". Als Vorbild wird hierfür ein flexibler Renteneintritt nach skandinavischem Vorbild genannt – diese von Grünen und FDP favorisierte Idee findet demnach nur als Diskussionsangebot Eingang ins Koalitionspapier.
  • Meist-Weitreichend ist der Plan einer teilweisen Kapitaldeckung der gesetzlichen Rentenversicherung – umgesetzt in Form eines dauerhaften Fonds, der von einer unabhängigen öffentlich-rechtlichen Stelle professionell verwaltet wird. Hierzu will man der Deutschen Rentenversicherung (DRV) in 2022 einen Kapitalstock von 10 Milliarden Euro (aus Haushaltsmitteln) zuführen.
  • Zudem soll es der Deutschen Rentenversicherung ermöglicht werden, ihre Reserven am Kapitalmarkt reguliert anzulegen.
  • Die Wirkung der Grundrente soll evaluiert werden. Verbesserungsvorschläge, insbesondere auch zum Prüfungsaufwand bei Kapitalerträgen, sollen erarbeitet werden.
  • Die Möglichkeit für Rentnerinnen und Rentner in der Grundsicherung, mit der Erwerbstätigkeit das Einkommen zu verbessern, soll ausgeweitet werden.
  • Die betriebliche Altersvorsorge soll gestärkt werden durch die Erlaubnis von Anlagemöglichkeiten mit höheren Renditen – dies hatte die Branche lange schon gefordert.
  • Die Möglichkeit einer Förderung von Anlageprodukten soll geprüft werden, die höhere Renditen als die Riesterrente bietet. Anreize sollen besonders untere Einkommensgruppen ansprechen. Dass dies nichts Gutes für die bisherige Riesterrente bedeutet, darauf deutet der Hinweis auf einen Bestandsschutz für laufende Riester-Verträge hin.

Vorsorgepflicht für Selbständige

Die große Koalition versprach sie und blieb die Umsetzung schuldig: eine Vorsorgepflicht für Selbstständige. Dies will nun die Ampelkoalition angehen: Für alle neuen Selbstständigen, die keinem obligatorischen Alterssicherungssystem unterliegen, soll eine Pflicht zur Altersvorsorge mit Wahlfreiheit eingeführt werden. Selbstständige sind demnach dann in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert, sofern sie nicht im Rahmen eines einfachen und unbürokratischen Opt-Outs ein privates Vorsorgeprodukt wählen. Das private Vorsorgeprodukt muss allerdings insolvenz- und pfändungssicher sein.

Weitere branchenweite Themen

Auch beim größten Angstthema darf die Branche aufatmen: Von einem Provisionsdeckel in der Lebensversicherung liest man im Koalitionsvertrag nichts. Dennoch beziehen sich einige Pläne des Koalitionspapiers auf die Finanzpolitik und dürften deswegen auf Interesse auch unter Vermittlern stoßen:

  • Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) soll aufgefordert werden, Regulierungslücken im grauen Kapitalmarkt zu identifizieren.
  • Bei Restschuldversicherung soll der Abschluss des Versicherungsvertrages und der Abschluss des Kreditvertrags zeitlich um mindestens eine Woche entkoppelt werden.
  • Das Entgelttransparenzgesetz soll weiterentwickelt werden – unter anderem, um die Lohnlücke zwischen Frauen und Männern zu schließen.
  • Auch beim Kredit-Scoring (Schufa und Co.) soll die Transparenz zugunsten der Betroffenen erhöht werden.
  • Bei der BaFin soll eine Vergleichs-Webseite für Kontoentgelte eingerichtet werden.
  • Aber auch die Politik selbst fühlt sich laut Plan zu mehr Transparenz verpflichtet. So soll Parteiensponsoring ab einer Bagatellgrenze veröffentlichungspflichtig werden: Die Pflicht zur sofortigen Veröffentlichung von Zuwendungen an Parteien wird auf 35.000 Euro herabgesetzt. Spenden und Mitgliedsbeiträge, die in der Summe 7.500 Euro pro Jahr überschreiten, werden im Rechenschaftsbericht veröffentlichungspflichtig.
  • Bei Bekämpfung der Geldwäsche soll es eine zwischen Bund, Ländern und EU abgestimmte Strategie geben. Bei besonders finanzmarktnahen Verpflichteten wird die Geldwäscheaufsicht auf die BaFin übertragen. Auch sollen Geldwäsche-Meldungen aus dem Nicht-Finanzbereich, wie zum Beispiel dem Immobiliensektor, erleichtert werden. Ein Versteuerungsnachweis für gewerbliche Immobilienkäufer aus dem Ausland soll verpflichtend sein, der Erwerb von Immobilien mit Bargeld soll verboten werden.
  • Das Datenbankgrundbuch soll mit dem Transparenzregister verknüpft werden, um die Verschleierung der wahren Eigentümer von Immobilien zu beenden.
  • Für Blockchains sollen Risiken identifiziert und ein angemessener regulativer Rahmen geschaffen werden.
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