Die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) könnte infolge der Corona-Pandemie finanzielle Probleme bekommen. Das berichtet das „Handelsblatt“ am Freitag und beruft sich auf ein Positionspapier des GKV-Spitzenverbandes. Eine drohende Folge davon sei, dass sich die gesetzlich Krankenversicherten auf stark steigende Zusatzbeiträge einstellen müssten.

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Liquiditätsreserve bald aufgebraucht?

Der Vorstoß überrascht insofern, weil die Krankenkassen soeben noch auf Rekordüberschüssen saßen. Noch im Januar hatten die Anbieter rund 30 Milliarden Euro auf der hohen Kante, davon zehn Milliarden Euro als Liquiditätsreserve im Gesundheitsfonds.

Doch bereits im März warnten die Kassen, dass sich die gesetzlich Versicherten schon 2021 auf Zusatzbeiträge von mehr als zwei Prozent einstellen müssen. Grund sind zahlreiche Teuerungen im Gesundheitssystem: Allein die Gesundheitsreformen der Großen Koalition haben in den Jahren 2019 bis 2021 Mehrausgaben von 17 Milliarden Euro zur Folge, wie der „Tagesspiegel“ mit Bezug auf Rechnungen einzelner Kassen berichtete. So sollen unter anderem Pflegekräfte besser bezahlt werden - und Betriebsrentnerinnen und -rentner werden bei den Kassenbeiträgen entlastet (der Versicherungsbote berichtete).

Die Coronakrise könnte die finanzielle Situation einzelner Kassen nun zusätzlich verschärfen. In einem Positionspapier warnt der GKV-Spitzenverband demnach vor möglichen Pleiten von GKV-Anbietern. „Ohne gesetzliche Maßnahmen steuert das Finanzierungssystem der Krankenversicherung spätestens zum Jahreswechsel 2020/21 auf einen existentiell bedrohlichen Liquiditätsengpass zu: Die Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds wird im Verlauf des zweiten Halbjahres aufgrund der absehbaren Mindereinnahmen und vorgegebenen Zahlungsverpflichtungen aufgebraucht sein“, zitiert das Handelsblatt aus dem Papier.

"Mehrere Kassen an der Abbruchkante"

„Mehrere Kassen stehen an der Abbruchkante“, wird ein ranghoher Kassenfunktionär zitiert, der anonym bleiben wolle. Ein Grund sei, dass die Rücklagen der Kassen sehr ungleich verteilt seien. An diesem Montag soll es laut „Handelsblatt“ einen Krisengipfel von Jens Spahn mit GKV-Chefin Doris Pfeiffer und anderen Kassenfunktionären geben: Das Bundesgesundheitsministerium wollte dies nicht bestätigen.

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Die Gründe für die Liquiditätsprobleme sind vielschichtig. Zum einen hat das Gesundheitssystem seit Jahren mit stark steigenden Ausgaben zu kämpfen. Die Bevölkerung wird älter, was statistisch zu höheren Gesundheitskosten führt. Aber auch steigende Medikamentenpreise und zahlreiche Fehlanreize belasten das Gesundheitssystem. So erhalten die Kassen ausgerechnet für jene Operationen das meiste Geld aus dem Gesundheitsfonds, die gut planbar sind und in der Regel ohne große Komplikationen ablaufen: zum Beispiel Eingriffe für künstliche Hüften und Gelenke. Diese mussten nun oft ausgesetzt werden, um Kapazitäten für Corona-Patienten freizuhalten.

Tragen Krankenkassen einseitig die Lasten der Corona-Pandemie?

Die Coronakrise macht den Krankenkassen nun zusätzlich zu schaffen. Mitte April haben bereits SPD und Grüne gewarnt, dass Hilfspakete und Mehrkosten einseitig zulasten der GKV-Beitragszahler gehen könnten (der Versicherungsbote berichtete).

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat als Ausgleich der finanziellen Belastungen für die Krankenhäuser und Ärzte ein COVID19-Krankenhausentlastungsgesetz auf den Weg geschickt. Große Teile des Pakets werden von den Krankenkassen geschultert. „Für die GKV entstehen durch das Hilfspaket im Krankenhausbereich in diesem Jahr geschätzte Mehrausgaben in Höhe von rund 6,3 Milliarden Euro, von denen 1,5 Milliarden Euro direkt aus der Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds finanziert werden“, berichtet das Bundesgesundheitsministerium.

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Das Entlastungspaket sieht unter anderem vor, dass Kliniken einen finanziellen Ausgleich von 560 Euro pro Patient erhalten, wenn planbare Operationen und Behandlungen verschoben werden, um Kapazitäten für die Behandlung von Patienten mit einer Coronavirus-Infektion frei zu halten. Das Geld wird aus der Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds bezahlt und aus dem Bundeshaushalt refinanziert. Auch muss dringend benötigte Schutzausrüstung für Klinikpersonal und Pflegekräfte mittlerweile oft zu Wucherpreisen eingekauft werden, da es international einen erbitterten Kampf um die Ware gibt. Auch die Coronatests für Kontaktpersonen werden zum Großteil von den Kassen bezahlt.

Um das komplizierte Abrechnungs-Prozedere zwischen Kliniken und Krankenkassen zu beschleunigen, sind die Kassen verpflichtet worden, Krankenhausrechnungen ohne Prüfung binnen fünf Tagen zu überweisen. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit von Abrechnungsbetrug zulasten der Beitragszahler - in einer Zeit, in der die Kliniken dringend mehr Geld benötigen.

Einnahmen brechen weg

Die Einnahmeseite der Krankenkassen leidet aber ebenfalls aufgrund von Kurzarbeitergeld, steigender Arbeitslosigkeit und gestundeter Beitragszahlungen von Firmen in Finanznot. Bis Ende April haben Firmen für 10,1 Millionen Menschen Kurzarbeit beantragt, wie aus Zahlen der Bundesagentur für Arbeit hervorgeht. Sie zahlen bis zu 40 Prozent weniger Beitrag.

Doch damit nicht genug. Ausgerechnet in Zeiten der Coronapandemie entzieht das Bundesamt für soziale Sicherung (BAS) den Krankenkassen Liquidität. Die Mittel aus dem Kassen-Finanzausgleich für März und April werden verzögert ausgezahlt, weil das Amt selbst unter Geldproblemen leidet (der Versicherungsbote berichtete). Gegenüber dem "Handelsblatt" sagte ein Sprecher, dass sich die Liquidität wegen der milliardenschweren Ausgleichszahlungen an Krankenhäuser wegen freigehaltener Intensivbetten reduziert habe. Normalerweise hätten rund 21 Milliarden Euro Ende April überwiesen werden sollen - das Geld kommt nun erst Mitte Mai. Die Krankenkassen erfuhren dies ein Tag vorher.

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Nun appellieren die Krankenkassen, dass zusätzliche Bundesmittel fließen sollen, um die finanzielle Not abzufedern. Sonst könnten sie die Zusatzbeiträge bis 2021 verdoppeln, warnen Kassen-Experten. Bereits mehrere Politikerinnen und Politiker haben sich zuvor ähnlich positioniert. So forderte Maria Klein-Schmeink, gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, einen „Schutzschirm für die gesetzliche Krankenversicherung“.

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