Rund 8,8 Millionen Kundinnen und Kunden zählt die R+V Versicherung. In einem Interview mit t-online.de hat sich nun Vorstandschef Norbert Rollinger umfassend zur Coronakrise und ihre Auswirkung auf die Versicherungswirtschaft geäußert. Und klar gemacht, dass die Branche hier an ihre Grenzen stößt.

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“Unvorstellbar und unkalkulierbar“

Auf die Frage, weshalb es keine Anti-Corona-Versicherung gebe, die vor den wirtschaftlichen Schäden einer Pandemie schützt, antwortet Rollinger: „Ganz einfach: Weil wir das Coronavirus erst seit drei Monaten kennen – und die Folgen der Pandemie für die Weltwirtschaft unvorstellbar waren und unkalkulierbar sind“.

Unkalkulierbar bedeutet im Versicherungssprech auch: unversicherbar, wie an Rollingers weiteren Ausführungen deutlich wird. Ein Grund sei, dass das Virus nicht regional begrenzt auftrete wie zum Beispiel die Sars-Epidemie, sondern global. „Jetzt ist die Wirtschaft fast völlig zum Erliegen gekommen – das ist ein einmaliges Phänomen und die größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Solche gewaltigen wirtschaftlichen Schäden kann unsere Branche finanziell nicht schultern und deshalb gibt es für solche Fälle auch keine Versicherungen – wie übrigens gegen Kriege auch nicht“, sagt der 56jährige.

Damit bestätigt Rollinger ähnliche Wortmeldungen anderer Versicherer-Vorstände, etwa Allianz-Chef Oliver Bäte oder Christopher Lohmann, Vorstandschef der Gothaer. Bäte hatte in einem „Spiegel“-Interview die Corona-Pandemie mit der Explosion eines Kernkraftwerks verglichen: eine Katastrophe, für die Versicherer auch keine Absicherung bieten. Und einen Rettungsschirm gefordert, in den öffentliche Hand und Versicherer gemeinsam einzahlen. Ein Vorstoß, dem sich mehrere Versicherer-Vorstände angeschlossen haben (der Versicherungsbote berichtete).

"Wir reden von Hunderten Milliarden Euro"

Rollinger konkretisiert mit Zahlen, weshalb solch eine Police die Branche überfordern würde. Er wird vom Interviewer gefragt, wie eine "echte Pandemie-Versicherung" aussehen könnte. Das sei abhängig davon, wie lange die Krise anhalte und wie lange eine Kontaktsperre notwendig sei. "Klar ist nur: Wir reden von Hunderten Milliarden Euro, einem nennenswerten Teil unseres Bruttoinlandsproduktes. Zum Vergleich: Die gesamte Versicherungsbranche nimmt jedes Jahr mittels Prämien rund 200 Milliarden Euro ein – und zwar für alle Versicherungen, die sie anbietet", erklärt der Vorstand.

Die Kosten einer Pandemie-Versicherung würden folglich ein Vielfaches aller eingenommenen Beiträge der Branche darstellen, schlussfolgert Rollinger - allein könnten dies die Versicherer nicht lösen. "Die Prämien für die Kunden wären sonst unbezahlbar hoch oder die Branche würde bei der nächsten Pandemie selbst untergehen", so der R+V-Chef.

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Es handelt sich bei einer Pandemie um ein sogenanntes Kumulszenario. Das bedeutet, aufgrund eines Ereignisses treten so viele Schäden gleichzeitig auf, dass die Kosten für die Versicherer existenzbedrohend werden: ein regelrechter Flächenbrand. Doch dass Pandemien ein solches Kumulrisiko darstellen, wurde erst mit den massiven Auswirkungen der Coronakrise offenbar. Zuvor waren Pandemie- und Seuchenklauseln sogar vergleichsweise preiswert in wichtige Vertragsarten inkludierbar, etwa in Veranstaltungsausfall-Policen. Einfach deshalb, weil ein solches Szenario infolge einer Viruskrankheit auch für die Versicherungsbranche Neuland ist (der Versicherungsbote berichtete).

Betriebsschließungsversicherung "keine Anti-Corona-Versicherung"

Für Kontroversen könnten Rollingers konkrete Ausführungen zur Betriebsschließungsversicherung sorgen, denn auch dazu äußert er sich. Mit diesen Policen haben sich viele Gastwirte, Hoteliers und Lebensmittel-Betriebe versichert geglaubt, wenn das Unternehmen aufgrund einer behördlichen Anordnung infolge des Infektionsschutzgesetzes dichtmachen musste. Dann zahlt der Versicherer eine Art Tagegeld für 30 bis 60 Tage: Doch viele Versicherer stellen sich quer und sehen sich nicht in der Leistungspflicht.

"Totalausfall nicht versicherbar"

Auch die R+V nicht, wie der Vorstandschef deutlich macht: zumindest, wenn es um die gesamte versicherte Summe geht. So wird Rollinger gefragt, ob nicht die sogenannte Betriebsschließungsversicherung eine Anti-Corona-Police sei. Das verneint er ausdrücklich.

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Diese Versicherung sei für den Fall gedacht, „dass einzelne Unternehmen geschlossen werden müssen und nicht alle versicherten Betriebe gleichzeitig. Wichtig war sie bislang vor allem in der Gastronomie oder im Lebensmittelhandel – Betriebe, bei denen die Behörden immer wieder eine zeitweise Schließung anordnen können, etwa bei einem Salmonellen-Befall“, führt Rollinger aus. Eine Totalschließung der ganzen Republik aber könne man nicht versichern - „damit unsere Kunden, die eine solche Versicherung abgeschlossen haben, trotzdem nicht gänzlich leer ausgehen, gewähren wir bei Betriebsschließungen durch Corona momentan bis zu 15 Prozent der eigentlichen Entschädigung“.

Die R+V will gemäß dieser Aussage nicht den vollen Beitrag für ihre Gewerbekunden zahlen, sondern nur jenen deutlich geringeren Betrag, der im bayrischen Kompromiss ausgehandelt wurde: angeblich aus Kulanz. Doch ausschlaggebend für die Leistungspflicht der Versicherer ist nicht, ob sie das Pandemie-Risiko nach Eintreten des Ernstfalls für unkalkulierbar erklären und sich mit extrem hohen Forderungen konfrontiert sehen, sondern was konkret in den Verträgen der Kundinnen und Kunden steht.

Juristen wie der Berliner Rechtswissenschaftler Hans-Peter Schwintowski oder Rechtsanwalt Knut Pilz sehen auch dann vielfach eine Leistungspflicht der Versicherer, wenn das Coronavirus nicht explizit im Vertrag genannt wird, aber Betriebsschließungen infolge des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) abgesichert sind. Auch Maklerverbände wie der Bundesverband Deutscher Versicherungsmakler (BDVM) haben sich entsprechend positioniert (der Versicherungsbote berichtete).

Bayrischer Kompromiss kostet allein 300 Millionen Euro für Branche

In der Frage, ob die Branche nun für bestehende Betriebsschließungen voll zahlen müssen, zeigt sich die Branche gespalten: Versicherer wie HDI und Signal Iduna wollen für Coronaschäden aufkommen, abhängig vom jeweiligen Vertrag. Die meisten Anbieter aber nicht. Norbert Rollinger deutet an, weshalb viele Versicherer nun hart sind: Die Beitragseinnahmen in dieser speziellen Versicherungsart stehen in keinem Verhältnis zu den nun drohenden Kosten.

Schon infolge des bayrischen Kompromisses -maximal zehn bis 15 Prozent der versicherten Summe- werde die Branche mehr als 300 Millionen Euro auszahlen müssen, rechnet der Vorstand vor. "Bei der R+V gehen wir von Kosten in Höhe von 50 bis 60 Millionen Euro aus. Das ist ein Vielfaches dessen, was wir mit der Versicherung eingenommen haben – die Summe entspricht den Prämieneinnahmen von etwa hundert Jahren, die damit perdu sind".

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Ob die Versicherer leistungspflichtig sind und im Rahmen welcher konkreten Vertragsklauseln, müssten die Gerichte klären: in langen Rechtsstreiten über mehrere Instanzen. Aber R+V-Chef Rollinger legt sich fest. Es sei klar, "dass Corona in unseren Policen nicht mitversichert ist", sagt er t-online.de.

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