Es sind jedes Mal krasse Zukunftsszenarien, die zu Beginn der Leitmesse DKM in Dortmund verhandelt werden. Neue Wettbewerber drängen auf dem Markt: Werden die Versicherer bald überflüssig sein und das Geschäft unter Amazon und Google aufgeteilt? Stellt sich die Branche dem Änderungsdruck ausreichend? Und welche Rolle wird der persönliche Vertrieb für die Versicherer künftig einnehmen – wird er überhaupt noch gebraucht? Vier Vorstandschefs saßen diesmal auf dem Podium: Achim Kassow (Ergo), Christoph Bohn (Alte Leipziger), Carsten Schildknecht (Zurich) und Norbert Rollinger (R+V).

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Zuckerguss auf unappetitlichem Kuchen

Zu Beginn der Diskussionsrunde durfte das Publikum per App bewerten, wie gut die Versicherer auf die digitale Zukunft eingestellt seien. Fast 60 Prozent stimmten mit Schulnote 4. Oder wie Moderator Marc Surminski pointierte: „gerade noch bestanden“.

Dem entgegen zeigten sich die Versichererchefs auf der Bühne selbstbewusst. Im Wettbewerb um das Frontend: stark vereinfacht Anwendungen, die sich an den End- und Neukunden wenden, sieht man sich mit den InsurTechs mittlerweile auf Augenhöhe. Die größte Herausforderung sei hingegen aktuell, wie man den Altbestand mit in die digitale Welt nehme, gab R+V-Chef Rollinger zu bedenken.

Dem pflichtete Zurich-Vorstand Schildknecht bei. Haben die Versicherer nur den Neukunden im Blick und nicht die wertvollen Altbestände, tappen sie in die Digitalisierungsfalle, warnte er. Das sei, als würde man Zuckerguss auf einen sehr unappetitlichen Kuchen draufgeben. Doch alle digitalen Systeme zu modernisieren, beanspruche Zeit. „Wir haben damit angefangen und investieren 50 bis 100 Millionen Euro im Jahr“, so Schildknecht.

Ergo: Digitaler Neustart in Leben

Die Ergo hat die Frage nach Altbeständen auf ihre Weise beantwortet – und wickelt Millionen Leben-Policen auf einer hauseigenen Run-off-Plattform ab. „Man hat manchmal das Gefühl, in Versicherungsunternehmen in einer Art Industriemuseum zu stehen“, erklärte Deutschland-Chef Kassow. Wichtig sei, dass Kundenerwartungen zeitgemäß erfüllt würden.

Hier fühlten sich die Düsseldorfer mit ihren hochverzinsten Altverträgen in eine Sackgasse hineingeraten: das Gefühl, diese Altverträge nicht durch Ausbau der alten Systeme erfolgreich digitalisieren zu können, so konnte man den Ausführungen entnehmen. Oder mit Kassows Worten: „Im LV-Geschäft glauben wir, dass wir neue Bestandssysteme brauchen“. Folglich entwickelte die Ergo gemeinsam mit IBM eine ganz neue Plattform, auf die man Altbestände überträgt und auch anderen Assekuranzen anbietet: ein kompletter Neustart statt herumdoktern am alten System.

Man kooperiert verstärkt

Christoph Bohn war als Vertreter eines mittelständischen Versicherers eingeladen. Und wurde mit der Frage konfrontiert, ob die „Kleinen“ im Nachteil sind, wenn digitale Zukunftsstrategien angeschoben werden müssen. Das sah er freilich nicht so: gerade, dass man eher ein kleiner Versicherer sei, ermögliche schnelles und flexibles Reagieren.

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Hierfür brauche der Versicherer aber Kooperationspartner, wie Bohn hervorhob. „Und ist klar, wir können heute nicht alles selber machen“. Folglich müsse die Alte Leipziger verstärkt Services einkaufen, wofür sie mit Standardpartnern und Insurtechs kooperiere: hier sei Kooperationsmanagement gefragt. Kein abgeschlossener Prozess: „Es ist falsch zu sagen: So, das haben wir jetzt gemacht und das wird 20 Jahre halten. Das hält vielleicht keine drei oder vier Jahre!“.

Der Vermittler als Ökosystem

Ein weiteres Thema, mit dem Moderator Marc Surminski die vier Vorstände konfrontierte: Welche Rolle spielen die Versicherer in digitalen Ökosystemen? Können sie selbst Ökosysteme schaffen oder müssen sie sich anderen Systemen unterwerfen?

Gemeint ist hiermit stark vereinfacht die Idee, dass Unternehmen ihren Kundinnen und Kunden einen ganzen Kosmos an Diensten und Produkten bieten, die auch branchenfremde Leistungen beinhalten. Es geht darum, zum Begleiter im täglichen Leben zu werden, möglichst unersetzbar: ähnlich etwa dem Smartphone, mit dem man nicht nur telefonieren und Nachrichten schreiben kann, sondern auch bezahlen, fotografieren, Termine verwalten etc.

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Ein eigenes Ökosystem sei der Königsweg, erklärte R+V-Chef Rollinger: Freilich sei es für Versicherer schwierig, in die Lebenswelt des Kunden vorzudringen. "Wir haben nur die Chance Ökosysteme zu bauen, auf denen nicht Versicherung steht". Dennoch hätten die Gesellschaften durchaus Chancen, wie Rollinger am Beispiel des eigenen Konzerns zeigte:

So sei man in der Gewerbesparte mit Versicherungen für Spediteure gut aufgestellt. Die R+V biete den Firmen aber mehr als nur Versicherungen. Fahrermangel und fehlende Rastplätze würden die Speditionsbranche stark belasten: Hier habe man gemeinsam mit Kooperationspartnern digitale Werkzeuge geschaffen, um die Ausbildung von Fahrern und das Finden von Parkplätzen zu unterstützen. Dabei seien Versicherer auf Kooperationen angewiesen: Lebenswelten allein könnten sie nicht schaffen, auch wegen der hohen Kosten.

Alte-Leipziger-Chef Christoph Bohn wählte zwar ein ähnliches Beispiel, widersprach aber Rollinger zum Teil. So hätten Versicherer durchaus die Chance, sich mit einem eigenen Ökosystem zu positionieren. „Es gibt im bAV-Bereich Ökosysteme, die von Firmen erfolgreich betrieben werden“, so Bohn. Entwickelten Versicherer zum Beispiel für mittlere Unternehmen spezielle Formen der betrieblichen Altersvorsorge, könnten sie sich als Produzenten eines solchen Systems in Szene setzen. Da müsse man "vorne mit dabei sein".

"Jeder Vermittler ein eigenes Ökosystem"

Auch Ergo-Deutschland-Chef Kassow pflichtete bei, es wäre ideal eigene Ökosysteme zu schaffen. Er gab zu bedenken: „Wir sind als Versicherer in einer Welt, die relativ kontaktarm ist gegenüber den Kunden“. Dennoch machte er drei Bereiche aus, in denen sich die Versicherer im Alltag der Menschen positionieren können: Mobilität, Travel sowie Gesundheit. „Das sind Themen, wo Versicherer über das Versichern hinaus eigene Leistungen erbringen können“, etwa über Pay-as-you-live-Tarife, die gesundheitsbewusstes Verhalten belohnen.

Und welche Rolle komme bei der Schaffung von Ökosystemen dem Vertrieb bei?, wurden die anwesenden Vorstände von Moderator Surminski befragt. "Ich würde jeden Vermittler und Makler als eigenes Ökosystem bezeichnen wollen", schmeichelte Kassow den anwesenden Vermittlern im Publikum. Schließlich würden sie sich in einem eigenen Netzwerk bewegen und verschiedenste Kompetenzen vereinen, etwa Beratung zu Versicherung, Altersvorsorge und Schadenabwicklung: eine Schnittstelle in die Lebenswelt des Kunden.

PSD 2 - Verhaltenes Hoffen auf bessere Daten

Ein weiteres Thema: die PSD 2-Richtlinie, auch als "Zahlungsdiensterichtlinie" genannt. Sie verpflichtet Banken künftig, Daten zu Kontobewegungen auch Dritten zur Verfügung zu stellen: vorausgesetzt natürlich, der Kunde willigt explizit ein. Eine Datengoldgrube für Versicherer?

Norbert Rollinger trat vorerst auf die Euphoriebremse. Der Start gestalte sich als äußerst holprig, gab er zu bedenken: Die Kunden seien (noch) nicht bereit, die Daten freizugeben. Dennoch arbeite man an aktuell an Tools, die Zahlungsstrom-Analysen von Kontoinhabern des Partners Deutsche Volksbanken und Raiffeisenbanken auswerten zu können. Auch Zurich-Chef Schildknecht warf ein, man müsse abwarten, ob die Kunden zur Datenweitergabe bereit seien: schließlich müssten sie sich quasi nackt machen, wenn Drittanbieter ihre Kontobewegungen nachvollziehen könnten.

Für Ergo-Vorstand Kassow ist die PSD 2-Debatte Teil eines übergeordneten Phänomens: Wie kommen Versicherer an branchenfremde Datenströme, die für sie auch interessant sind? Anbieter wie Amazon, Facebook oder Google würden bereits eine Vielzahl wertvoller Daten auswerten, wobei sich viele Menschen beim Thema Datenschutz hier weit weniger empfindlich zeigen. Hier stelle sich die Frage, wo der Versicherer in der Wertschöpfungskette sitze.

"KI ist Rettungsanker für persönliche Beratung"

Beim Gewinnen dieser Daten kommen nun wieder die Vermittler ins Spiel: und die persönliche Beratung. "Menschen tun sich leichter, Müller, Meier oder Schultze die Daten zu geben als einer Institution", will Kassow im eigenen Konzern beobachtet haben: eine Frage des Vertrauens. Und so sei persönliche Beratung auch ein Schlüssel zu der digitalen Welt. Gleichsam wollen die Versicherer diese Daten auch ihren Vermittlern zur Verfügung stellen, wenn sie erst einmal gewonnen sind, so betonten die Vorstände.

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Die Chancen besserer Datennutzung wurden als ein Grund gewertet, weshalb auch Künstliche Intelligenz (KI) keine Gefahr für die Vermittlerexistenz sei. Zwar sei KI der Bereich, "der mit die größte Auswirkung auf die Branche hat", sagte R+V-Chef Rollinger. Aber mit KI könnten die Makler und Vertreter ihre Kunden noch gezielter und persönlicher ansprechen. Auch hätten die Vermittler mehr Zeit für ihre Kunden, weil die Schadenbearbeitung vereinfacht und beschleunigt werde - weniger Versicherte rufen folglich im Büro an, weil sie Fragen oder Beschwerden haben. "Ich bin überzeugt, KI ist der Rettungsanker für persönliche Beratung", so Rollinger.

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