Und Diplom-Verwaltungswirt Christian Lindner geht sogar davon aus, dass in Ostdeutschland zwei Drittel aller Rentnerinnen und in Westdeutschland immerhin 20 Prozent von derartigen Kürzungen betroffen sind. In einigen Fällen betragen die Kürzungen nur wenige Cent. Allerdings gibt es auch Betroffene, die bis zu 80 Euro monatliche Rente einbüßen. Für all diese Betroffenen werden Erziehungsleistungen also nicht in gleicher Weise bei der Rente anerkannt wie für Erziehende, die zuhause blieben oder die ein geringeres Einkommen hatten.

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Unterschiedliche Behandlung von Zugangsrenten und Bestandsrenten

Es gibt ein weiteres Problem. Denn zwar fand eine Begrenzung der Rentenansprüche schon vor Einführung der Mütterrente Anwendung. Jedoch: Beim Plus, das durch die Mütterrente I und die Mütterrente II hinzu kam, werden Zugangsrenten und Bestandsrenten unterschiedlich behandelt.

Grundlage dieser Verfahrensweise ist Paragraph 307d SGB VI: Bestandsrentner*innen, die am 30. Juni 2014 – und damit vor Einführung der Mütterrente – schon Rentner*innen waren, bekommen pauschal den Aufschlag an persönlichen Entgeltpunkten für vor 1992 geborene Kinder hinzuaddiert. Dieses Plus gibt es sogar dann unbegrenzt, wenn dadurch die Höchstwerte der Anlage 2b SGB VI überschritten werden – es handelt sich hierbei um eine so genannte „bevorzugende Pauschalierung“, um Verwaltungsaufwand während einer Übergangsphase zu reduzieren.

Anders wird aber bei Neurentnerinnen und Neurentnern verfahren: Hier wird das Plus der Mütterrente mit Anlage 2b abgeglichen und bei Überschreiten der Höchstwerte werden die Rentenansprüche entsprechend wieder gekürzt.

Betroffene fühlen sich für Beitragszahlungen bestraft

Dass Betroffene sich durch die derzeitige Praxis bestraft sehen, wird an mehreren Rechtsverfahren deutlich, die sich auf Paragraph 70 SGB VI beziehen. Denn die betroffenen Frauen trugen ja durch ihre zeitige Wiederaufnahme des Berufs – über die Beiträge – dazu bei, die umlagefinanzierte gesetzliche Rente zu stützen. Im Gegenzug aber werden ihnen nun Ansprüche gekürzt. Schon mehrere Frauen klagten aus diesem Grund und nahmen auch einen Verfahrensgang durch mehrere Instanzen in Kauf. So bezieht sich ein Terminbericht des Bundessozialgerichts (BSG) vom 16. Oktober 2019 bereits auf acht Verfahren, die in dieser Sache bis vor Deutschlands höchstes Sozialgericht führten.

Der Trumpf der Rechtsexperten: Ein Vorlagebeschluss von 2012

Freilich muss zu den Klagen auch erwähnt werden: Nicht eine der Klagen war bisher erfolgreich. Und dennoch meinen die Dresdner Rechtsexperten, für ihre Verfassungsbeschwerde einen Trumpf im Ärmel zu haben. Vertrat doch in 2012 auch das Sozialgericht Neubrandenburg in einem Vorlagebeschluss die Überzeugung, wonach „Paragraph 70 Absatz 2 Satz 2 SGB VI in Verbindung mit Anlage 2b zum SGB VI verfassungswidrig“ sei. Denn „die Begrenzungs-Regelung“ verstoße „gegen Artikel 3 Absatz 1 Grundgesetz“, da sich „Kindererziehungszeiten nicht bei allen Versicherten gleich günstig auf die Rente auswirken“ würden.

Das Sozialgericht Neubrandenburg bezog sich für diese Rechtsauffassung auch auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. März 1996 (Az. 1 BvR 609/90 sowie Az. 1 BvR 692/90). Im Sinne dieser Entscheidung darf eine Rentenregelung „nicht diejenigen Versicherten“ benachteiligen, die während der ersten Lebensjahre ihres Kindes „die Solidargemeinschaft durch die Entrichtung von Beiträgen zur Rentenversicherung“ unterstützen. Laut SG Neubrandenburg führt die derzeitige Rechtspraxis aber zu einer solchen Benachteiligung.

Besonders kritisierte hierbei das Gericht: Erreiche das Einkommen der Betroffenen „gar die aktuelle Beitragsbemessungsgrenze“, fände deren Kindererziehungsleistung „im Rahmen der Rentenbemessung überhaupt keine Würdigung mehr“. Aus diesem Grund setzte das Sozialgericht Neubrandenburg auch jenes Verfahren aus, zu dem es eigentlich urteilen sollte – eine ehemalige Ärztin hatte aufgrund ihres Rentenbescheids geklagt. Mit Beschluss vom 12.01.2012 (Az. S 4 RA 152/03) legte das Sozialgericht zugleich den Rechtsstreit dem Bundesverfassungsgericht vor – um zu prüfen, ob das Sozialgericht Neubrandenburg mit seiner Rechtsauffassung richtig liegt und ob demnach Paragraph 70 SGB VI tatsächlich gegen das Grundgesetz verstößt.

Unzulässiger Hoffnungsträger: Entscheidung in der Sache stehe aus

Freilich: Mit Datum vom 21. September 2016 wurde die Vorlage durch das Bundesverfassungsgericht als unzulässig erklärt (Az. 1 BvL 6/12). Die Nichtannahme war jedoch formell durch den Tod der Klägerin begründet. Denn nachdem die klagende Ärztin verstorben war, hätten die Erben den Rechtsstreit weiterführen müssen – dies verweigerten sie jedoch. Ein wichtiger Fakt für Diplom-Verwaltungswirt Christian Lindner: Es gab zu dem Vorlagebeschluss aus seiner Sicht „keine Sachentscheidung“, erklärte er gegenüber dem MDR.

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Auch hätte sich „in diesen ganzen Verfahren“, die zwischenzeitlich stattgefunden haben, das Bundesverfassungsgericht „nie inhaltlich zum Problem geäußert“. Die neue Verfassungsbeschwerde soll dies nun ändern – Lindner rechnet allerdings damit, dass die Entscheidung bis zu fünf Jahre dauern kann, wie der Rentenexperte gegenüber dem MDR beteuert.

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