Demnach unterscheidet sich schon die heutige Rechtslage von jener, auf die sich das Sozialgericht Neubrandenburg unter Berufung auf ein älteres Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1996 bezieht. Denn bis 1996 hätte die Erwerbstätigkeit als solche zur Diskriminierung geführt, wenn zeitig nach Geburt eines Kindes die Arbeit wieder aufgenommen wurde: Damals konnten Beitragszeiten während der Kindererziehungszeit nur bis zu einem Wert aufgestockt werden, der etwa 75 Prozent des Durchschnittseinkommens im Jahr ausmachte. Die Kindererziehung wirkte sich dadurch diskriminierend aus: Die Ansprüche blieben stets unterhalb der durchschnittlichen Ansprüche für Erwerbstätigkeit ohne Kindererziehung. Das aber ist heutzutage anders: Kindererziehung wird zusätzlich berücksichtigt, und zwar anhand eines additiven Modells: Statt dass Kindererziehung die Ansprüche nach unten begrenzt, kommen Ansprüche für Kindererziehungszeiten zu den Ansprüchen durch die Erwerbstätigkeit hinzu.

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Höchstwertbegrenzung schützt das Versichertenkollektiv

Nach jetzigem Rechtsstand wird hingegen bis zu jener Höchstgrenze aufgestockt, die sich an der Beitragsbemessungsgrenze orientiert. Das Bundessozialgericht bezeichnet hierfür die Beitragsbemessungsgrenze als „systemimmanent“ – sie stelle ein „grundlegendes Strukturelement der gesetzlichen Rentenversicherung“ dar. Weil sie Leistungen der Versicherten aus Beiträgen aber begrenzt, wäre es im Gegenzug auch gerechtfertigt, Leistungsansprüche in Orientierung an dieser Grenze zu deckeln. Denn dadurch wird das Versichertenkollektiv auch vor zu hohen Ansprüchen geschützt, die das umlagefinanzierte Verfahren schädigen.

Bundesverfassungsgericht: Erste Urteile zugunsten des Gesetzgebers

Diese Rechtsauffassung vertritt das Bundessozialgericht übrigens keineswegs im Alleingang – seine bisherigen Urteile zum Beispiel zusammenfassend im Terminbericht Nr. 47/19. Denn anders, als von Lindner behauptet, liegen durchaus auch Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu dieser Frage vor. Demnach kann das Bundessozialgericht für seine Rechtsauffassung auch auf drei Nichtannahmebeschlüsse des Bundesverfassungsgerichts verweisen.

Anwalt Herberg: Bisher mit Verfassungsbeschwerden nicht erfolgreich

So wies das Bundesverfassungsgericht zum Beispiel mit Datum vom 16. Dezember 2016 die Verfassungsbeschwerde einer Frau zurück, die ebenfalls aufgrund der Begrenzung von Entgeltpunkten für Kindererziehungszeiten geklagt hatte (Az. 1 BvR 287/14). Für diese Verfassungsbeschwerde wirkte sogar bereits der Sozialrechtsanwalt Matthias Herberg als Bevollmächtigter. Zwar waren für die Zurückweisung formelle Gründe ausschlaggebend – die Begründung genügte nicht den Erfordernissen, sodass die Beschwerde keine Aussicht auf Erfolg hatte. Doch keineswegs fallen Sachgründe aus dieser Entscheidung heraus.

Denn in seinen Entscheidungs-Gründen wies das Bundesverfassungegericht – ganz im Einklang mit dem Bundessozialgericht – darauf hin, dass die Begrenzung gemäß Paragraph 70 SGB VI gerechtfertigt sei durch „Begrenzung der Beitragspflicht als Grundprinzip der gesetzlichen Rentenversicherung“. Die Verfassungshüter beziehen sich hierfür auch auf frühere Urteile (z. B. Az. 1 BVR 858/03), nach denen die Begrenzung der Beitragspflicht von Beginn an zu den Grundprinzipien der gesetzlichen Rentenversicherung gehöre. Im Gegenzug sei es aber auch gerechtfertigt, die Summe der Entgeltpunkte insgesamt „auf die Zahl“ zu begrenzen, die „bei einer Beitragszahlung bis zur Beitragsbemessungsgrenze höchstens erreichbar ist“.

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Höchstwertbegrenzung sichert Finanzierbarkeit

Eine solche Begrenzung erhalte zum einen den Renten grundsätzlich ihre existenzsichernde Funktion. Sie gewährleiste zum anderen aber zugleich die Finanzierbarkeit der gesetzlichen Rentenversicherung. Ob nun die Rentenexperten Lindner und Herberg mit einem neuen Anlauf erfolgreich eine solche Argumentation anfechten können, wird der Ausgang der aktuellen Verfassungsbeschwerde zeigen.

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