Eigentlich sollte in diesem Jahr 20. Jubiläum gefeiert werden: So oft fand bereits der Vorlesungstag des Instituts für Versicherungswissenschaften e.V. an der Uni Leipzig statt. Doch dank des neuen Coronavirus musste die Veranstaltung ausfallen. Als Präsensveranstaltung zumindest, denn die Organisatoren verlegten die Vorträge und Debatten ins Netz: Die Referenten sprachen vor dem heimischen Rechner. Und vor dem heimischen Rechner konnten auch alle Interessierten die Vorträge hören und die entsprechenden Präsentations-Charts nachverfolgen.

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Ökonom und Aktivist

Einer der Referenten war Gerhard Schick. Dass er mit der Versicherungsbranche hart ins Gericht gehen würde, war zu erwarten. Als einen „konstruktiv sehr kritischen Querkopf“ bezeichnete ihn der online moderierende Gastgeber Fred Wagner nach seinem Vortrag. Nicht ohne Grund: Schick gründete 2018 den Verein „Finanzwende e.V.“.

Als zivilgesellschaftliche Organisation soll dieser Verein Finanzthemen in die Öffentlichkeit tragen, erklärte Schick, über die zu wenig geredet werde: kritisch und aus Verbrauchersicht. Schick ist nicht nur Diplom-Volkswirt, sondern auch Aktivist. Nicht zufällig sei der Verein „Finanzwende“ zum zehnten Jahrestag der Pleite von Lehman Brothers gegründet wurden, sagte er: also jene Investmentbank, die die Finanzkrise ins Rollen brachte.

Er habe den Eindruck, dass viele Lehren aus der Finanzkrise nicht gezogen worden seien und vielfach wieder die alten Kräfteverhältnisse wie vor der Krise herrschen würden, führte Schick weiter aus. Etwa hätten Wirtschaftsprüfer und Ratingagenturen ihr Geschäftsmodell nicht geändert. Auch wenn Schick dies nicht direkt ansprach: Noch immer werden die Dienstleister von ebenjenen Firmen beauftragt und bezahlt, die sie eigentlich überwachen sollen: ein Interessenkonflikt.

Immerhin musste der frühere Grünen-Abgeordnete einräumen, dass es bei der Versicherungs- und Finanzaufsicht Verbesserungen gegeben habe, gerade in der Verzahnung von EU und nationalen Aufsichtsregimes. Nur mit Blick auf Verbraucherinteressen habe sich zu wenig bewegt, so bemängelte er.

Vergütungsmodelle der Lebensversicherung: wie das frisch gezapfte Bier an der Theke

Was Schick mit seiner Kritik ins Auge fasst, konnten die Zuhörer und Zuschauer an den Bildschirmen dann selbst verfolgen: am Beispiel der Vergütungsmodelle in der Lebensversicherung und bei Altersvorsorge-Produkten, speziell dem Provisionsvertrieb. Denn diese Modelle waren Thema seines Vortrages.

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Der Vertrieb von Leben-Policen werde von den Versicherern mit Beratung umschrieben, führte der Volkswirt aus. Dabei werde die Beratung gar nicht vergütet, sondern einzig und allein der Vertragsabschluss. Auftrag der Vermittler sei es, möglichst viel zu verkaufen: ähnlich wie der Kneipenwirt, der ein frisch gezapftes Bier gleich neben das sich leerende Glas stellt. Belohnt werde der schnelle Absatz von Verträgen: nicht die gute und intensive Beratung.

"Dann muss im Alter was übrig bleiben!"

Dieses Provisionssystem verteidige die Branche „mit Zähnen und Klauen“, wie Schick anmerkte. Die Versicherungswirtschaft hänge an ihrer Provision „… wie ein Teenager an seinem Smartphone“. Und sie zeige wenig Bereitschaft zur Veränderung. So stamme auch das zugrundeliegende mathematische Verfahren zur Berechnung der Vertragskosten noch aus dem vorigen Jahrhundert: 1863 bereits wurde die sogenannte Zillmerung eingeführt, benannt nach dem Versicherungsmathematiker August Zillmer. Also jenes Verfahren, dass es den Lebensversicherern erlaubt, einen Großteil der Abschluss- und Verwaltungskosten in den ersten fünf Jahren zu berechnen. Der damalige Kanzler hieß: Otto von Bismarck.

Eine Folge des veralteten Provisionssystems sei, so argumentierte der 47jährige weiter, dass die Altersvorsorge-Produkte der Versicherer deutlich zu hohe Kosten haben - zum Nachteil des Kunden. Das versuchte der Ökonom unter anderem an Studien aus dem Hause Assekurata aufzuzeigen, auch wenn in der anschließenden Diskussion teils Unklarheit über die genannten Daten herrschte.

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Die Fakten: Insgesamt etwas mehr als acht Prozent aller Prämienzahlungen in Höhe von 86,6 Milliarden Euro zwackt die Versicherungsbranche dem Kunden für den Vertrieb ab, so zeigen Branchenzahlen des GDV. Die Abschlussprovisionen machen hier den größten Teil der Gesamtkosten aus (Daten für 2017).

Inflation frisst Rendite

Derart hohe Kosten hätten noch in Zeiten funktioniert, als die Branche florierte und die Lebensversicherer ihren Kunden vier Prozent auf den Garantiezins zusagen konnten, gab Schick zu bedenken: also in der Zeit um die Jahrtausendwende, als pro Jahr 7,5 Millionen Neuverträge verkauft werden konnten. Auch, weil die Verträge trotz der hohen Vergütung noch satte Renditen versprachen. Heute machen die hohen Kosten aber die Altersvorsorge für Kunden unattraktiv. Das gelte selbst für die neuen Produkte der Lebensversicherer ohne Garantiezins, etwa Indexpolicen:

Wer mit einem Neuvertrag über 30 Jahre hinweg jeden Monat hundert Euro einzahle, könne damit im Schnitt die Geldentwertung durch Inflation kaum ausgleichen. Schlimmer: Manche Versicherer würden selbst nach dieser langen Sparzeit nur noch den Erhalt der gezahlten Beiträge zu 70 bis 80 Prozent gewährleisten.

Das Fazit:"Lebensversicherung lohnt kaum mehr. Viele Verbraucher wollen aber vorsorgen. Dann muss auch im Alter was übrig bleiben", mahnte Schick.

keine Selbstheilungskräfte der Branche: und Nettopolicen als Alternative

Ein Problem sind die hohen Kosten aber nicht nur für die Verbraucher, sondern auch für die Versicherer selbst, wie Schick argumentierte. Denn den Gesellschaften entstehe neue, kostengünstige Konkurrenz: etwa durch ETFs und entsprechende Sparverträge, vielfach auch von Verbraucherschützern empfohlen. Die Folge: ein schwächelndes Neugeschäft. Es läge folglich auch im Interesse der Versicherer, hier die Kosten zu senken.

Die Versicherungsbranche wolle diese hohen Kostensätze dennoch weiter sichern, die Selbstheilungskräfte scheinen nicht zu funktionieren, kritisierte Schick weiter. Wenn etwas funktioniere, dann als Folge davon, dass der Gesetzgeber haarklein vorschreibe, was erlaubt sei und was nicht: zum Beispiel der verbindliche Kostenausweis bei Riester-Renten. Auch ein Provisionsdeckel würde aus Sicht des Ökonomen nicht das Problem lösen, dass im Beratungsgespräch ein grundlegender Interessenkonflikt des Vermittlers bestünde: Die Versicherer würden weiter über Verkaufsanreize die Spielregeln bestimmen.

Nettopolicen mit Honorarordnung

Man muss an dieser Stelle einwenden, dass es Schick nicht daran gelegen war, die Qualität der Altersvorsorge-Beratung in der Lebensversicherung komplett infrage zu stellen. Im Gegenteil: Auch er hob auf die Wichtigkeit persönlicher Beratung bei der Altersvorsorge ab. Aber das Provisionsmodell begünstige, dass über Fehlanreize die Kunden noch immer zu oft schlecht beraten würden.

„Ich will mich als Kunde nicht darauf verlassen müssen, dass ich zufällig einen guten Vermittler finde - und keinen, der gerade Geld braucht!“, führte Schick aus. Stattdessen verlange der Kunde nach einer fairen und unabhängigen Beratung. Deshalb solle er diese Beratung künftig direkt bezahlen: mittels Nettopolicen. Dabei schwebt Schick eine Art Honorarordnung vor, als Vorbild nennt er Steuerberater und Rechtsanwälte: Das würde finanzielle Fehlanreize ausschließen. Der Dienstleister solle nur im Sinne seines Mandanten handeln dürfen.

Standardprodukt für Menschen mit kleinem Geldbeutel

Zwei Einwände musste Schick in seinem Vortrag mit Blick auf Nettotarife ausräumen. Zum einen, dass die Kunden ohnehin nicht bereit sei, für die Beratung hohe Summen zu zahlen. Hier berief er sich auf eine Umfrage des Marktforschungsinstituts Innofact im Auftrag der MyLife Lebensversicherung unter 1.000 Bundesbürgern. Demnach haben 74 Prozent der Befragten noch nie etwas von Nettopolicen gehört. Rund drei Viertel (77 Prozent) gaben nach einer kurzen Erläuterung aber an, dass eine Nettoversicherung für sie interessant sei.

Einwand Numero zwei betrifft das Argument, dass Geringverdiener sich eine Nettopolice gar nicht leisten könnten: Sie folglich künftig nicht mehr zur Altersvorsorge beraten würden. Für diese Menschen sei die jetzige Situation auch nicht gut, so seine These. Sie würden schon jetzt schlecht beraten, weil an ihnen wenig zu verdienen sei. Das zeige sich etwa daran, dass 50 Prozent der Geringverdiener keine Privathaftpflicht besitzen, aber stattdessen viele eine überteuerte Restschuldversicherung. Bei letzteren fließt teils fast die Hälfte aller gezahlten Beiträge als Provision an die Vermittler.

Als Lösung für Menschen mit kleinem Geldbeutel schlug Schick ein einfach zu verstehendes und weniger komplexes Standardprodukt vor. Ein solches wird auf dem europäischen Binnenmarkt soeben mit der Europarente bzw. dem "Pan-European Personal Pension Product" (PEPP) angeschoben. In Deutschland werden ähnliche Konzepte unter Begriffen wie "Deutschlandrente" bzw. Extra-Rente debattiert. Die Bedingung: Die Gesamtkosten dieses Produktes dürfen maximal ein Prozent der Beitragssumme betragen.

eine gewisse solidarische Komponente

Gerhard Schicks abschließendes Plädoyer: „Die Versicherungsbranche muss sich bei den Produkten, den Abschlusskosten und der Vertriebsvergütung bewegen!“ Die Produkte müssten stärker nachhaltig ausgerichtet werden - etwa bei den investierten Kundengeldern. Und die Kosten müssten bei der Vergütung runter. Für diese Forderungen bestehe aktuell ein großer Handlungsdruck, zumal sie nicht mehr nur von wenigen Stimmen in Politik und Verbraucherschutz getragen würden, sondern der Ruf nach Veränderung lauter werde: auch bei den Kunden "Jetzt ist Zeit für einen Wandel!"

Auch die gesetzliche Rente wurde unter Bismarck eingeführt

In der kritischen Debatte wollten die - an den Bildschirmen anwesenden - Versicherungsvorstände und Wissenschaftler die Vorwürfe so nicht stehen lassen. So sagte der gastgebende Fred Wagner vom Institut für Versicherungslehre Leipzig, die Kritik, dass bereits unter Bismarck das Provisionsmodell eingeführt worden sei und es deshalb veraltet, habe ihn nicht überzeugt. „Er hat schließlich auch die gesetzliche Rente eingeführt. Ich weiß, dass Sie diese sehr goutieren!“, sagte er an Schick adressiert.

Schick antwortete, es bedürfe „einer gewissen solidarischen Komponente, auch eines paternalistischen Impulses“, damit nicht viele Bürger in Altersarmut ändern. Davon nahm er auch die private Versicherungswirtschaft nicht aus. „Wir erreichen ganz viele Menschen nicht, gerade die Gering Verdienenden!“ Ein weiteres Problem sei die Komplexität der Regelungen und Produkte. So erhalte er in vielen Bürgerrunden die Rückmeldung von Verbrauchern: „Mensch, warum macht man es uns eigentlich so kompliziert?“

Unattraktiv - woran misst man das?

Ein weiterer Kritikpunkt war, dass die Angebote der Lebensversicherer letztendlich weniger unattraktiv seien als von dem Vortragenden behauptet. Woran man dies messe, wollte Wagner wissen: 1,84 Prozent Durchschnitts-Rendite, wie als Beispiel für eine Lebensversicherung genannt wurde, seien doch etwa im Verhältnis zu Staatsanleihen noch attraktiv? Diese würden gar nichts mehr an Rendite abwerfen, sogar einen negativen Zins. Zudem gelte es, die gebotenen Sicherheiten der Leben-Produkte zu bedenken, die ebenfalls Geld kosten. Allein in letzter Woche sei der Dax um 30 Prozent gefallen: "Meinen Sie, die meisten Deutschen könnten damit umgehen?"

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Hier versicherte Schick noch einmal, dass es ihm nicht darum gehe, Produkte und Beratung per se infrage zu stellen. Nicht alle Deutschen sollen in Altersvorsorge Selbstentscheider werden: viele seien damit überfordert. „Ich setze auf einen Markt für qualitativ hochwertige Beratung und ich setze auf ein Standardprodukt!“, so Schick. Dieses Standardprodukt könne zum Beispiel ein Modell ähnlich dem Schwedischen Staatsfonds sein. Doch auch dieser solle sich weiterhin dem Wettbewerb der privaten Anbieter stellen. Wenn diese erfolgreicher seien, solle der Kunde sich auch gegen das Standardprodukt entscheiden können.

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