Versicherungsbote: Wie bewerten Sie die aktuelle Bedrohung durch Altersarmut in Deutschland? Müssen die Bundesbürger Altersarmut fürchten — und was kann dagegen getan werden?

Anzeige

Johannes Vogel: Altersarmut betrifft erfreulicherweise im Vergleich mit anderen Generationen sehr wenige Menschen, das ist eine gute Nachricht. Aber jeder Fall ist einer zu viel, und deshalb besteht politischer Handlungsbedarf. Das ist bedauerlicherweise ein Thema, welches viel zu lange von der Bundesregierung außer Acht gelassen wurde. Jetzt bearbeitet die Koalition mit der sogenannten Grundrente, nach den unfinanzierbaren Rentenpaketen des letzten Jahres, endlich das richtige Thema, aber legt ein schlechtes Modell vor. Die Grundrente würde nicht zielgenau helfen und wäre sogar teilweise äußerst unfair. Wer stolze 34 Jahre lang eingezahlt hat, wird in dem Modell überhaupt nicht berücksichtigt und bekommt für seine Einzahlungen weniger aus der Rente als jemand, der in Summe zwar weniger eingezahlt, das aber ein paar Monate länger getan hat. Ein derart willkürlicher Fallbeileffekt ist respektlos gegenüber der Lebensleistung der Menschen. Zudem wird ein Grundsatz unserer Rentenversicherung untergraben, nämlich das sogenannte Äquivalenzprinzip, also dass die Auszahlungen von der Einzahlung abhängen.

Die Grundrente ist darüber hinaus nicht zielgenau. Denn eine Bedarfsprüfung findet nach den jetzigen Plänen gar nicht statt. So würde es in einer Vielzahl von Fällen dazu kommen, dass auch sehr gut versorgte Menschen die Grundrente erhalten. Und genau das macht den Vorschlag auch so teuer. Wie es besser gehen würde, haben wir Freie Demokraten bereits vor einigen Monaten vorgelegt. Unser Modell der Basis-Rente ist im klaren Kontrast dazu fair, zielgenau und finanzierbar. Die Basis-Rente bekämpft zielgenau Altersarmut durch einen Freibetrag bei der Grundsicherung. Bei der Basis-Rente hat derjenige, der gearbeitet und vorgesorgt hat, immer mehr als die Grundsicherung. Und ebenfalls immer mehr als jemand, der das nicht getan hat. Durch einen Freibetrag in der Grundsicherung sowohl auf Einkünfte aus der Rentenversicherung als auch aus privater Vorsorge ermöglichen wir, dass nach einem langen Arbeitsleben auch bei einem zum Beispiel durchgehend geringeren Einkommen im Alter mindestens rund 1.000 Euro übrig bleiben. Gleichzeitig werden keine ordnungspolitischen Probleme wie etwa die Abkehr vom Äquivalenzprinzip in der Rentenversicherung oder der Nutzung von Beitragsgeldern für versicherungsfremde Leistungen aufgeworfen. Ebenso erhält die Basis-Rente nur, wer auch wirklich Unterstützungsbedarf hat. Dafür soll man aber im Alter nicht zum Sozialamt gehen müssen, denn Beantragung und Auszahlung laufen über die Rentenversicherung. Die Bundesregierung sollte dieses ausgereifte Konzept als Beratungsgrundlage nehmen und endlich etwas für die Menschen tun, die von Altersarmut bedroht sind.

Nach pessimistischen Schätzungen wird in der gesetzlichen Rentenversicherung schon Mitte dieses Jahrhunderts ein Arbeitnehmer fast alleine für einen Rentner aufkommen müssen. Wie sattelfest ist aus Ihrer Sicht die umlagefinanzierte Rente? Und sollte das Eintrittsalter an die steigende Lebenserwartung angepasst werden?

Das wichtigste wäre, die unfinanzierbaren Rentenpakete der Großen Koalition aus dem letzten Jahr zurückzunehmen, insbesondere die Manipulation der Rentenformel zu Lasten der Jungen durch Aussetzung des Nachhaltigkeitsfaktors. Dass wir darüber hinaus die Rente modernisieren müssen, ist für uns vollkommen klar. Drei grundlegende Punkte sind für uns besonders wichtig: Erstens ist es nicht mehr zeitgemäß, dass Politiker entscheiden, wann die Menschen in Rente gehen. Wir brauchen ein flexibles Renteneintrittsalter, das den unterschiedlichen und vielfältigen Lebensläufen der Bevölkerung gerecht wird. Schweden macht uns das beispielsweise seit Jahren erfolgreich vor. Wer früher in Rente geht, bekommt weniger Rente, wer später geht, mehr. Dort wird zudem die Lebenserwartung automatisch in die Formel einberechnet. Und flexible Teilrentenmodelle sind auch möglich. Zweitens müssen wir die private Vorsorge besser machen und das Rentensystem mehr als einen Baukasten begreifen. Wer zwischen Anstellung und Selbstständigkeit wechselt, darf zukünftig nicht mehr benachteiligt werden, sondern muss seine geförderte Altersvorsorge problemlos mitnehmen können. Zudem brauchen wir eine andere Aktienkultur. Denn bei einer langfristigen Anlage ist das eine risikoarme Investitionsmöglichkeit. Und drittens brauchen wir mehr Transparenz. Wir fordern ein Online-Vorsorgekonto, mit dem man innerhalb von Sekunden seine derzeitigen Ansprüche aus allen drei Säulen der Altersvorsorge gesammelt einsehen kann.

Sollte die gesetzliche Rente zukünftig gestärkt werden, etwa durch Anhebung des Rentenniveaus oder mehr Einzahler? Beispiel Österreich: Hier zahlen auch Selbstständige und Beamte in die Rentenkasse, der Beitrag ist höher. Aber im Schnitt erhalten Altersruheständler über 300 Euro mehr Rente im Monat. Auch für Deutschland ein denkbares Modell?

Anzeige

Nein, das glaube ich nicht. Wir dürfen bei der Debatte nicht vergessen, dass jeder, der nun einzahlt, später auch Ansprüche besitzt. Somit würden also mehr Einzahler in ein paar Jahren auch mehr Empfänger bedeuten – ausgerechnet die Beamten haben dabei einen noch größeren demokratischen Babyboomer-Buckel als die Gesamtbevölkerung. Das kann also keine Lösung für die gesetzliche Rente sein. Es sollte einem zu denken geben, dass insbesondere die Linkspartei Österreichs Rentensystem als Vorbild propagiert - und Österreich in Wahrheit auf große demographische Probleme zuläuft.

Wir müssen die private Vorsorge besser machen

Aktuell wird eine Altersvorsorgepflicht für Selbstständige diskutiert, weil speziell sogenannte Soloselbstständige mit kleinem Einkommen oft darauf verzichten, aber später Anspruch auf Grundsicherung haben. Wie positionieren Sie sich zu dieser Pflicht — wie könnte diese gestaltet sein?

Ich bin der Überzeugung, dass auch Selbstständige für das Alter vorsorgen müssen. Aber wie sie das tun, das sollen sie bitte selbst entscheiden können. Also: Pflicht zur Vorsorge mit echter Wahlfreiheit ja, quasi-Pflicht in die gesetzliche Rentenversicherung nein. Damit Gründungen aber nicht an einer Pflicht zur Altersvorsorge scheitern, sollten wir den Menschen zudem eine Karenzfrist in jeder Gründungsphase und weitreichende Übergangsvorschriften einräumen.

Anzeige

Neben der gesetzlichen und betrieblichen Rente sollen die Menschen auch privat vorsorgen: unter anderem staatlich gefördert mit der Riester-Rente. Muss Riester reformiert oder gar abgeschafft werden? Oder funktioniert das aktuelle Modell? Über 16,56 Millionen Menschen hatten zum Ende des dritten Quartals einen Riester-Vertrag abgeschlossen. Aber das Neugeschäft stagniert, jeder fünfte Vertrag liegt nach Schätzungen des Bundesarbeitsministeriums auf Eis.

Ich habe das Thema ja eben schon kurz angeschnitten: Wir müssen die private Vorsorge, also auch die Riester-Rente, besser machen. Etwa dadurch, dass wir die Riester-Förderung für alle öffnen. Zudem können und müssen das Zulagensystem und die sonstigen Vorschriften viel einfacher werden. Und wir sollten höhere Aktienquoten zulassen.

Wie positionieren Sie sich zu der Idee, einen Kapitalstock bei der Deutschen Rentenversicherung aufzubauen, ähnlich dem schwedischen Staatsfonds? Dort zahlen die Bürger 2,5 Prozent ihres Gehalts in bis zu fünf Fonds ein, über 800 stehen zu Auswahl. Sie müssen Nachhaltigkeitskriterien erfüllen. Die Verwaltungskosten: 0,1 Prozent. Ein Modell auch für Deutschland?

Generell freue ich mich über jede Debatte in Richtung höhere Aktienquoten. Der nächste Schritt muss aber ja offenkundig sein, erstmal höhere Aktienquoten in allen Formen der geförderten Altersvorsorge in der 1. und 3. Säule zu erlauben.

Dank Niedrigzins-Politik werden viele populäre Geldanlagen der Deutschen vakant: Lebens- und Rentenversicherungen rentieren sich immer seltener. Müssen die Bürger umlernen und ihr Geld in andere Vorsorgeformen stecken?

Es spricht jedenfalls alles dafür, bei langfristigen Anlagen in Aktien zu investieren. Im Dax liegt das Verlustrisiko ab rund 15 Jahren Anlage bei 0 und die Rendite bei 30 Jahren im Schnitt bei neun Prozent. Und wo reden wir über eine jahrzehntelange Anlage, wenn nicht bei der Altersvorsorge?

Wird der Niedrigzins aus Ihrer Sicht in den kommenden Jahren anhalten — und mit welchen Konsequenzen für deutsche Sparer?

Das kann keiner kalkulieren, aber damit ist zu rechnen. Umso wichtiger wird der vorige Punkt: eine neue Anlagekultur unter stärkerer Berücksichtigung von Aktien.

Wir müssen beim Klimaschutz endlich besser werden

Unser Wohlfahrtssystem beruht auf der Idee, dass Wirtschaftswachstum zu mehr Wohlstand führt: dies wird auch wirtschaftspolitisch angestrebt. Nicht erst seit den „Fridays for Future“-Demonstrationen gibt es Bedenken, ob das Wachstumsideal dem Menschen auch schadet: es bedroht die Umwelt, führt zu Stress und Burnout etc. Gibt es eine Alternative zu einer Wirtschaft, die Wachstum anpeilt — wie könnte sie aussehen?

Wir müssen beim Klimaschutz endlich besser werden. Aber Klimaschutz und Kapitalismuskritik sind nicht dasselbe. Denn die soziale Marktwirtschaft ist ein Erfolgsprojekt und hat uns Wohlstand und Frieden gebracht. Vor 200 Jahren haben von 100 Menschen auf der Erde 94 in extremer Armut gelebt – heute sind es zehn. Das sind noch immer zehn Menschen zu viel, aber es ist ein großer Erfolg des modernen Lebens. Und das lässt sich fortführen: Vor 200 Jahren konnten weltweit von 100 Menschen 88 nicht lesen, heute sind es 15. Vor 200 Jahren sind von 100 Kindern 43 gestorben, bevor sie fünf Jahre alt waren – heute sind es noch vier. Bei einer langfristigen Betrachtung muss also klar werden, welche gesellschaftlichen Erfolge Fortschritt, Globalisierung und damit auch Wachstum uns allen bringt. Und genau diese Wirtschaftsordnung ist es auch, die uns die entstandenen Probleme lösen lässt. Denn es gibt keinen Widerspruch zwischen Wirtschaft und Klimaschutz, im Gegenteil. Wachstum heißt ja nicht zwingend rauchende Schlote. Wir können uns gerade durch die Kräfte von Marktwirtschaft und Innovation von der Abhängigkeit von CO2 befreien - und müssen das auch. Das setzt natürlich voraus, dass wir den ordnungspolitischen Rahmen richtig setzen, etwa durch einen wirksamen Preis für CO2, am effektivsten durch einen endlich umfassenden Zertifikatehandel.

Die Digitalisierung bedroht Arbeitsplätze, gerade einfache Tätigkeiten könnten wegfallen. Zugleich böte sie die Chance, Arbeit neu zu organisieren: zum Beispiel duch kürzere Arbeitszeiten. Eine Prognose: Wie arbeiten wir in 30 Jahren?

Die Digitalisierung ist vor allem eine Chance. Ich bin der festen Überzeugung: Die Digitalisierung vernichtet unterm Strich keine Arbeitsplätze, sondern sie verändert sie. Dafür spricht auch alle Forschung und historische Erfahrung. Und genau für diesen umfassenden Wandel muss die Politik die richtigen Antworten finden. Arbeit hat zum Beispiel immer auch mit Arbeitszeit zu tun, aber unser Arbeitszeitgesetz stammt aus dem Jahre 1994. Damals gab es noch Telefone mit Wählscheibe und kaum jemand hat E-Mails geschrieben. Das passt nicht mehr in die heutige Zeit. Wer heute das Büro eher verlassen will, um Zeit mit den Kindern zu verbringen, und am Abend um 22:00 oder 23:00 Uhr noch dienstliche Mails auch nur lesen will, der darf am nächsten Morgen die Arbeit nicht vor 10 Uhr wieder aufnehmen. Wer macht denn das? Das Gesetz ist vollkommen veraltet. Wir müssen es so modernisieren, dass jede und jeder mehr Freiheiten erhält, sich die Arbeitszeit unter der Woche besser einteilen zu können.

Dazu gehört aber auch, dass wir dort, wo es sinnvoll und gewollt ist, mehr Homeoffice ermöglichen. Starre Arbeitszeiten und Arbeitsorte sind aus der Zeit gefallen. Geben wir den Menschen mehr Möglichkeiten, selbst zu entscheiden, wann sie wie und von wo arbeiten! Dazu müssen wir auch alle Menschen bei der Digitalisierung mitnehmen. Wir brauchen ein Versprechen an jede und jeden, durch Weiterbildung im digitalen Wandel gut teilhaben zu können. Wir wollen allen Menschen ermöglichen, zum Piloten des eigenen Lebens zu werden. Wir brauchen ein Konzept für ein echtes zweites Bildungssystem für das ganze Leben. Dazu gehören auch neue Instrumente: Denn Weiterbildung ist zwar notwendig, kostet aber Geld. Auch Bildungsauszeiten muss man sich schlicht leisten können. Deshalb brauchen wir neue Instrumente wie einen Rechtsanspruch zur steuerfreien Entgeltumwandlung für ein Bildungssparen. Mit den Langzeitkonten für Beschäftigte gibt es schon ein Instrument, das man nur umbauen und allen Erwerbstätigen zugänglich machen müsste.

Zudem müssen wir Menschen mit weniger Geld besonders fördern: Das BAföG für Studierende hat der breiten Masse der Bevölkerung die Tür zu den Universitäten geöffnet - warum sollte das mit einem Midlife-BAföG für Menschen mit geringerem Einkommen nicht auch für ein zweites Bildungssystem möglich sein? Das Instrument des Bildungssparens und das Midlife-Bafög könnten in einem Freiraumkonto zusammengeführt werden. Das sind nur ein paar unserer Vorschläge. Es gibt also viel zu tun. Aber von der Bundesregierung wartet man leider bisher auf einen großen konzeptionellen Wurf, der die Chancen für mehr Selbstbestimmung betont und gestaltet.

Anzeige

Die Fragen stelle Mirko Wenig

Seite 1/2/3/

Anzeige