Mitte der 1990er Jahre fand ein Begriff Einzug in die Wirtschaftswelt, der eigentlich aus der Ökologie stammt: „Ökosysteme“. Dahinter steckt die Idee, dass Unternehmen unterschiedlicher Industrien gezielt rund um bestimmte Themenfelder, Kundenbedarfe oder Lebenswelten zusammenarbeiten und dadurch jeweils ein branchenübergreifendes Ökosystem vernetzter Unternehmen entsteht. Die Versicherungsindustrie hat das Thema Ökosysteme seit gut zehn Jahren bewusst in den Fokus genommen – anfangs mit großer Energie und großen Erwartungen, mittlerweile mit einer Mischung aus Realismus und teils auch Skepsis. Sind Ökosysteme also überhaupt noch strategisch relevant für die Versicherungsindustrie?

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Markus ZimmermannMarkus Zimmermann... ist Leiter Strategieberatung Versicherungen bei Accenture (DACH).www.accenture.com

Industriekonvergenz dauert – vor allem wegen Rollenkonkurrenz und Vertrauensbarrieren

Ein zentrales Element der Ökosystem-Idee im Wirtschaftsleben ist das Überwinden von klassischen Industriegrenzen: Unternehmen können zusammen mit ihren Partnern im Ökosystem Wettbewerbsvorteile gegenüber klassischen Industriekonkurrenten erzielen und Zugang zu neuen Märkten wie auch neuen Kunden erschließen. Aus Sicht der Kund:innen ist der Ökosystem-Ansatz ebenso von Vorteil: Sie wünschen sich immer mehr branchenübergreifend integrierte Produkte und Services, die ihnen das Leben innerhalb von Bedarfswelten wie Gesundheit, Zuhause oder Mobilität leichter machen.

Klingt einfach – ist es für die einzelnen Unternehmen aber oft nicht: Denn in den einzelnen Lebenswelten gibt es eine Vielzahl an Anbietern unterschiedlichster Branchen, die an der Kundenschnittstelle des Ökosystems in gewisser Weise in Konkurrenz zueinander geraten. Nicht für jeden Anbieter gibt es die Rolle eines Ökosystem-Orchestrators oder -Hauptbetreibers. Manche Unternehmen werden eher zum „Zulieferer“ einzelner Produkte und Services – verbunden mit dem Risiko, die strategische Kontrolle im Kundenzugang mehr und mehr zu verlieren. Aus genau diesem Grund tun sich viele Anbieter (noch) schwer damit, die angestrebte Industriekonvergenz umfassend zuzulassen. Dafür braucht es vor allem wechselseitiges Vertrauen und gemeinsame Geschäftsinteressen aller Beteiligten.

Diese skizzierte Rollenkonkurrenz in den Ökosystemen ist eine der größten Herausforderungen für die Versicherungsindustrie. Einerseits bieten Ökosysteme für Versicherer enorme Potenziale durch neue Märkte und Kundenzugänge, vernetzte Daten und integrierte Touchpoints. Andererseits kann ein Versicherer schnell in die Rolle eines reinen Zulieferers geraten. Versicherer müssen daher bewusst priorisieren, in welchen Ökosystemen sie eine realistische Chance haben, zu einem Hauptakteur oder sogar Orchestrator werden zu können. Für alle weiteren Ökosysteme gilt es bewusst abzuwägen, ob die vertrieblichen Zusatzpotenziale den Verlust der direkten Kundenschnittstelle langfristig rechtfertigen können oder nicht.

Kundinnen und Kunden spüren den Mehrwert erst, wenn es wirklich integrierte Journeys gibt

Das Interesse auf Kundenseite an branchenübergreifend integrierten Produkten und Lösungen ist groß und nimmt kontinuierlich zu. Das bedeutet aber nicht, dass dafür bereits alle Voraussetzungen geschaffen wurden. Zu den wichtigsten Bedingungen aus Kundensicht zählen einfache und integrierte Customer Journeys – und zwar von Information über Kauf bis hin zur Serviceerbringung.

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Das beinhaltet die Integration und Verknüpfung der relevanten Verkaufs-, Produkt- und Serviceprozesse aller Ökosystem-Anbieter in die gemeinsame Plattform. Und es setzt voraus, dass die Ökosystem-Journeys zu 100 Prozent aus Sicht der Nutzer:innen und deren Use Cases designt werden. Die großen digitalen Plattform-Unternehmen haben uns gezeigt, dass es möglich ist, den Kund:innen ein Frontend und eine Journey zu präsentieren, während im Hintergrund alle Produktgeber und Partner über Schnittstellen angebunden sind.

Ökosystem- und Plattform-Business erfordert neue technische und fachliche Fähigkeiten  

Was bedeutet das nun für die Versicherungsindustrie? Zum einen muss klar sein, dass Ökosysteme etwas anderes sind als ein zusätzlicher Vertriebskanal. Es geht um das Zusammenbringen von unterschiedlichsten Industrieangeboten mit relevanten Versicherungsprodukten und -services in einer strikt aus Kundenperspektive gedachten Journey. Das erfordert von den Versicherern ein erhöhtes Maß an Flexibilität im Prozessdesign bei Verkauf und Servicierung. Zweitens passen bestehende Versicherungsprodukte oft nicht 1:1 in die Ökosystem-Journeys, so dass Versicherer regelmäßig Innovation in die Entwicklung geeigneter Produkt- und Servicebausteine stecken müssen. Und zum Dritten ist auch hier wieder eine gewisse Vertrauenshürde zu überwinden: Nur wenn die integrierte Customer Journey am Ende dauerhaft Vorteile für alle Einzelanbieter bringt – also auch für den Versicherer im Ökosystem – lohnt sich das Invest in passgenaue Produkte und Prozesse.

Ökosystem- und Plattform-Business erfordert neue technische und fachliche Fähigkeiten

Industriekonvergenz und integrierte Journeys führen automatisch zur Frage der technischen Basis eines Ökosystems. Die Kunst dabei ist, alles an Frontendfunktionalitäten, Kundenschnittstellen und Datennutzung in einer gemeinsamen Plattform zusammenzubringen – und gleichzeitig diese Plattform nicht mit den operativen Detailfunktionalitäten der Produkte und Services unterschiedlichster Branchenanbieter zu überfrachten. Für einen Versicherer bedeutet das, dass seine IT-Architektur möglichst flexibel und entkoppelt aufgestellt sein muss, um sich schnell und einfach in Ökosystem-Plattformen integrieren zu können – und im Hintergrund die versicherungstechnischen und operativen Prozesse sicherzustellen. Angesichts immer noch umfangreicher Legacy-Systeme und Architektur-Komplexitäten eine der wichtigsten Baustellen in der Versicherungsindustrie.

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Beim Thema Kundenzentrierung haben sich die Versicherer seit einigen Jahren bewusst auf den Weg gemacht. Dennoch ist es eine zusätzliche Herausforderung, kundenzentrierte Produktentwicklung aus Sicht einer Lebenswelt und deren Customer Journeys ins tägliche Doing einer Versicherungsorganisation zu bringen. Um die richtigen Produkte und Services wertstiftend in ein Ökosystem einbringen zu können, muss es hier fokussierte Teams mit möglichst weitgehender End-to-End Verantwortung geben, die Versicherungslösungen integriert mit den anderen Themen des jeweiligen Ökosystems denken. Ähnliches gilt für die Fähigkeit zur vernetzten Zusammenarbeit mit einer Vielzahl an Ökosystem-Partnern aus unterschiedlichsten Branchen. Versicherer pflegen bislang vor allem transaktional Beziehungsmanagement mit ihren Service- und Kooperationspartnern, das sich in den letzten Jahren klar professionalisiert hat. Wenn man als Versicherer aber als Hauptakteur oder gar Orchestrator eines Ökosystems erfolgreich sein will, braucht es eine neue Form von Partnerauswahl, -koordination und 
-management, um gemeinsam Mehrwert für die Kund:innen zu generieren.

Ökosysteme bleiben strategisch unverzichtbar – die Reise dauert aber länger als erhofft


Die oben genannten Bausteine und Beispiele zeigen: Der Trend hin zu integrierten Bedarfswelten und Plattformen ist unumkehrbar, aber er braucht Zeit. Wichtig für einen Versicherer ist eine langfristige Vision und zugleich eine konsequente Umsetzung in eher kleineren Schritten:

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  • Nicht jeder Versicherer kann und wird Hauptbetreiber von Ökosystemen werden. Wichtig ist eine klare Priorisierung auf zwei bis drei relevanteste Ökoystem-Themen und die klare Definition der eigenen Rolle.
  • Erfolgreiches Ökosystem-Play benötigt neue Fähigkeiten – fachlich, technisch und auch organisatorisch. Hier kann und muss die Branche durchaus noch aufholen.
  • Basis für alle Aktivitäten muss der konsequente Blick auf die Nutzerperspektive sein: Nur wenn für Kund:innen spürbar Mehrwert aus der Kombination von Produkten und Services in einer integrierten Journey entsteht, können Ökosysteme mit Vernetzung zu Versicherung dauerhaft erfolgreich funktionieren.
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