Seit Jahren verschmelzen unsere digitale und physische Welt immer mehr. Das gilt auch bzw. insbesondere für das Gesundheitswesen, in dem Corona nochmal zu einem digitalen Push beim Angebot aber vor allem auch bei der Nachfrage geführt hat. Patient*innen haben heute eine erheblich höhere Bereitschaft, sich auf neue digitale Beratungs- und Behandlungswege einzulassen. So ist beispielsweise die Nutzung von Telemedizin enorm gestiegen: Während im Jahr 2019 rund 3.000 Stunden an telemedizinischer Beratung und Behandlung in Deutschland stattfanden, waren es im Jahr 2020 bereits 2,6 Millionen Stunden. Und selbst wenn man die initialen Corona-Effekte abdiskontiert: Die Bereitschaft der Nutzer*innen für digitale Gesundheitsleistungen ist heute auf einem deutlich höheren Niveau als noch vor wenigen Jahren. Zusätzlich stehen Themen wie das E-Rezept, die elektronische AU oder die elektronische Patientenakte unmittelbar vor dem Start.

Anzeige

Markus ZimmermannMarkus Zimmermann... ist Leiter Strategieberatung Versicherungen bei Accenture (DACH).www.accenture.com

Das Gesundheitswesen ist für die Versicherungsindustrie traditionell ein zentrales Ökosystem und bleibt auch künftig von großer Bedeutung bei Produktangeboten, Servicestrategien und Leistungsprozessen. Digital Health ist hier ein zentraler Veränderungstreiber: Denn neben der oben genannten Telemedizin gibt es unzählige Beispiele für die fortschreitende Digitalisierung von Patienten-Journeys, von Ansätzen der medizinischen und pflegerischen Begleitung oder für den steigenden Einsatz von Daten- und KI-gestützten Prozessen und Methoden, bei denen Versicherer andocken können. Eine wichtige Frage für die Versicherungswirtschaft sollte also lauten: Wo kann sie bei dieser Health Transformation unterstützen und sich beteiligen – und welche weiteren Potenziale stecken für die Branche in Digital Health?

Versicherer können zum Treiber integrierter digitaler Journeys für Patient*innen werden

Wie in allen Lebens- und Bedarfswelten lässt sich auch im Bereich Gesundheit ein Verschwimmen klassischer Industriegrenzen beobachten. Patient*innen erwarten für ihr jeweiliges Problem eine bestmöglich integrierte Antwort und Unterstützung – von der Terminsuche und dem Arzttermin über den Bezug von Medikamenten und Hilfsmitteln bis hin zur Begleitung in der Genesungsphase oder im Alltag mit der Krankheit. Dahinter stehen unzählige Leistungserbringer, die bislang in der Regel nur für einen oder wenige dieser Schritte im Kundenkontakt verantwortlich waren. Die Rolle des Versicherers war hier neben den etablierten Maßnahmen von Case Management und Patientensteuerung typischerweise auf die Leistungserstattung konzentriert. Die heutigen Patient*innen wollen aber integrierte digitale Journeys statt zahlreicher separierter Touchpoints und Leistungspartner.

Die Chance für die Krankenversicherer ergibt sich insbesondere aus der Tatsache, dass sie als Kostenerstatter an allen Touchpoints der Patienten-Journey stets involviert sind und somit die typischen Gesamt-Journeys besser kennen dürften als viele der anderen Beteiligten. Umgekehrt ist es durch die fortschreitende Digitalisierung im Gesundheitswesen heute viel einfacher, die bislang getrennten Leistungstouchpoints in passenden digitalen Journeys zusammenzubringen. Das große Potenzial liegt für die Versicherungsindustrie also darin, zum Treiber und Orchestrator integrierter Journeys zu werden und möglichst viele Leistungserbringer im Sinne eines echten Ökosystems eng aneinander zu knüpfen.

Anzeige

Aus Patientensicht wäre eine solche Rolle der Versicherungsbranche übrigens keine allzu große Überraschung: Laut einer Accenture Studie aus dem Jahr 2022 haben beispielsweise rund 73 Prozent der befragten Versicherungskund*innen von PKVen zum Ausdruck gebracht, dass sie von ihrer Krankenversicherung eine umfassende Betreuung zu allen Themen rund um Gesundheit erwarten. Das Vertrauen von der Nutzerseite, also die Grundlage für einen Orchestrator im Gesundheitsökosystem, ist demnach in jedem Fall vorhanden – insbesondere im Vergleich zu Tech-Firmen oder Start-ups, die in den vergangenen Jahren im Digital Health-Markt an Relevanz gewonnen haben. Somit gilt es für die Versicherer jetzt, ihren Vertrauensvorschuss zu nutzen und sich viel deutlicher als bislang vom traditionellen Kostenerstatter zum (digitalen) Lösungs-Orchestrator für ihre Patient*innen zu transformieren.

Alternde Gesellschaft braucht digitale Antworten in Gesundheit und Pflege

Diese Transformation sollte besser jetzt als später angegangen werden. Denn wir alle kennen die Probleme unserer Alterspyramide und die Folgen, die sich daraus für die Bereiche Gesundheit und Pflege ergeben. Die kommenden Jahrzehnte stellen uns vor große Herausforderungen, wie beispielsweise den wachsenden Fachkräftemangel im Gesundheitswesen oder die steigenden Gesundheits- und Pflegeausgaben bei einer sinkenden Anzahl an Beitragszahler:innen. Im Sinne ihrer Kund*innen aber ebenso im Sinne ihrer ökonomischen Tragfähigkeit müssen Kranken- und Lebensversicherer daher nach neuen Wegen suchen, um die breitere Digitalisierung von medizinischer Leistungserbringung in Gesundheit und Pflege wie auch effizientere und kostengünstigere Serviceprozesse voranzutreiben.

Es gibt in anderen Ländern bereits einige Personenversicherer, die beispielsweise das Thema häusliche Pflege in den Fokus genommen haben und gemeinsam mit zahlreichen relevanten Leistungserbringern digitale Lösungen bauen. Digital Health-Elemente können hier einerseits den noch relativ „fitten“ Senior*innen Sicherheit und Unterstützung im eigenen Haushalt und der weitgehend eigenständigen Versorgung bieten. Zum anderen unterstützen sie pflegende Angehörige in ihrem Pflegealltag, damit diese zielgerichteter, effektiver und auch resilienter die herausfordernden Aufgaben bewältigen können. Zusätzlich kann der Einsatz von Sensorik im Haushalt, das Tracking von Vitaldaten oder die selbstverständliche Nutzung von Telemedizin die kommenden Herausforderungen im Bereich Personal und Finanzierung mildern. Versicherer können hier über das Angebot entsprechender Serviceangebote – für kommende Generationen dann auch integriert in Zusatzversicherungen – ein neues Geschäftsfeld erschließen und damit einen weiteren Schritt machen, um vom reinen „Bezahler“ zum spürbaren „Kümmerer“ zu werden.

Anzeige

Digital Health stellt eine echte Chance für Versicherer und Patient*innen dar

Patient*innen erwarten naturgemäß beste Leistungen bei voller Kostenübernahme, während Versicherer auch Leistungsausgaben und Prozesskosten im Blick haben. Digital Health kann diesen Interessenkonflikt in mehreren Dimensionen entschärfen. Zum einen ermöglicht die Digitalisierung von Services und Prozessen den nächsten großen Schritt in intelligenter Prozessautomatisierung und damit auch Prozessbeschleunigung. Durch den zunehmenden Einsatz von Data Analytics und AI können somit gleichermaßen Effizienzpotenziale für die Versicherer wie auch Vorteile in der Customer Experience erreicht werden. Hierzu zählt auch die unmittelbare Bereitstellung relevanter Daten für alle involvierten Leistungserbringer an allen Touchpoints der Journey. Regulatorische Anforderungen beim Datenschutz stellen hierbei zurecht hohe Anforderungen, denn Gesundheitsdaten sind besonders schützenswert. Für die Umsetzung integrierter datenbasierter Lösungen gilt es daher, als Versicherer den bestmöglichen Spagat zwischen herausragenden Nutzerlebnissen und rechtlicher Compliance zu erreichen – beispielsweise über differenzierte Nutzung von Kundendaten nur zu ausgewählten, zweckbezogenen Zwecken oder über anonymisierte Daten (Stichwort „Datenspende“).

Für die Patient*innen eröffnet sich durch datenbasiertes Vorgehen die Chance, gezielter und passgenauer entlang ihrer Journey unterstützt und begleitet zu werden. Die Möglichkeiten der digital unterstützten Patientensteuerung bei Expertenzugang, Diagnostik, Therapiebegleitung oder auch Alltagsunterstützung im Falle von länger dauernden und chronischen Krankheiten sind hier typische Beispiele. Ebenso lässt sich der Wirkungsgrad bei Prävention wie auch Rehabilitation durch Digital Health spürbar steigern. Wichtig ist, den Patient*innen immer wieder deutlich zu machen, welche Vorteile sich aus der Nutzung digitaler Elemente und durch das Teilen von Daten im Gesundheitssegment ergeben, um die Bereitschaft zur digitalen Interaktion und Begleitung weiter zu steigern.

Anzeige

Das Momentum nutzen und zum Treiber der digitalen Transformation werden

Auch wenn manche Bausteine wie die elektronische Patientenakte länger brauchen als geplant: Die Digitalisierung des Gesundheitswesens schreitet konsequent voran. Und das geschieht nicht rein effizienzgetrieben, sondern auch aus Perspektive und zum Wohle der Patient*innen. Für die Versicherungswirtschaft bietet die aktuelle Phase die Gelegenheit, sich im immer digitaleren Ökosystem Gesundheit als Lead Player zu positionieren und zum Orchestrator von integrierten Patienten-Journeys zu werden. Im Gegensatz zu manch anderen Ökosystemen ist die Chance für die Branche in der Lebenswelt Gesundheit durchaus groß, denn das Vertrauen der Patient*innen ist vorhanden und keine andere Industrie konnte sich bislang als dominanter Player im Ökosystem positionieren. Nun gilt es, vor allem die digitale Transformation im Gesundheitssektor und die wachsende Bereitschaft der Patient*innen für digitale Kanäle und Lösungen konsequent zu nutzen und die eigene Rolle neu zu definieren.

Seite 1/2/

Anzeige