2019 wird zum Krisenjahr der Sozialdemokratie

Bei Wahlen hat die SPD schon bessere Zeiten gesehen, wie das Ergebnis der diesjährigen Landtagswahlen in Sachsen (7,7 Prozent) und Thüringen (8,2 Prozent) beweist. Auch forderte das am Wochenende gekürte neue SPD-Führungsduo Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans aufgrund koalitionskritischer Äußerungen bisher stark zur Polemik heraus – laut Handelsblatt hat die SPD "den letzten Akt der Großen Koalition eingeläutet" und laut FAZ schafft sich die SPD gar „endgültig ab“. Da können positive Schlagzeilen nicht schaden.

Anzeige

Freilich: Der Erfolg für Hubertus Heil und das von ihm geführte Bundesministerium für Arbeit und Soziales ist nur indirekt von politischer Natur. Und doch: Zumindest mit einer Begriffsbildung ist dem SPD-geführten Ministerium ein besonderer sprachschöpferischer Coup gelungen. Das veranschaulicht die aktuelle Auszeichnung der „Respektrente“ als Wort des Jahres 2019.

Die gekürte Leistung: Ein „Hochwertwort“

Gewählt wird das „Wort des Jahres“ – nun schon zum 43. Mal – durch eine Jury, die sich aus dem GfdS-Hauptvorstand sowie wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Gesellschaft zusammensetzt. Ausgezeichnet werden stets jenen Wörtern, die „das zu Ende gehende Jahr in besonderer Weise“ charakterisieren. Sprachpflege und politische Wertungen der Jury stellen die Prämisse.

Denn zum einen muss das „Wort des Jahres“ auf einen Kontext verweisen, dem die Jury eine besondere Bedeutung für die Gesellschaft beimisst. Im Sinne der Sprachpflege muss der Begriff aber auch bestimmte Kriterien erfüllen, die ästhetischer als auch ethischer Natur sind. So darf der Begriff zum Beispiel nicht diskriminierend oder irreführend sein oder gegen demokratische Grundsätze verstoßen, also kein „Unwort“ sein. Der bekannte Gegenpart zum „Wort des Jahres“ – das „Unwort des Jahres“ – wurde bis 1994 auch von der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) gewählt und wird nun durch eine eigenständige Initiative bestimmt und präsentiert.

Dem „Wort des Jahres“ kommen folglich Qualitäten zu, die dem „Unwort des Jahres“ fehlen. Die Jury zeichnet mit dem Ausdruck „Respektrente“ die „Neubildung eines Hochwertwortes“ in der politischen Debatte aus. Führe der Ausdruck doch „die besondere Fähigkeit der deutschen Sprache vor Augen“, durch Zusammensetzung von Wörtern „nahezu unbegrenzt neue Wörter zu bilden“. Aus Sicht der Jury nutzt das Ministerium außerdem Nebenbedeutungen des Wortes „Respekt“ für die Darstellung des eigenen Konzepts geschickt.

Wortschöpfung mit Neben-Bedeutung: Respekt-Zeigen fordert Respekt

Das veranschaulicht Jochen A. Bär als Professor für Germanistische Sprachwissenschaft an der Universität Vechta im Auftrag der Stiftung. Denn das Substantiv Respekt („Achtung, Hochachtung, Ansehen“), das „von dem lateinischen Verb respicere abgeleitet“ und "wörtlich mit Rücksicht" zu übersetzen ist, versucht laut Bär „eine Selbstaufwertung durch Fremdaufwertung“: Wer bereit ist, anderen Respekt entgegenzubringen, macht sich „versuchsweise selbst respektabel“ und damit „wählbar".

Das Besondere der Debatte aus Sicht der SPD ist durch den Begriff ebenfalls berührt: Ursprünglich plante die Große Koalition eine Grundrente, die laut Koalitionsvertrag mindestens zehn Prozent über der Grundsicherung liegt und all jene Menschen belohnt, die bei geringem Verdienst mindestens 35 Jahre in die Rentenkasse der gesetzlichen Rentenversicherung eingezahlt haben. Der Koalitionsvertrag sah aber auch eine Bedürftigkeitsprüfung entsprechend der Grundsicherung vor – die Rente sollte also nicht an jene Rentnerinnen und Rentner gezahlt werden, die auf anderem Wege (zum Beispiel durch Ehepartner) – vielleicht sogar sehr großzügig – abgesichert sind.

Eine Bedürftigkeitsprüfung jedoch wurde vom SPD-geführten Bundesarbeitsministerium mit Vorstellung der „Respektrente" über den Haufen geworfen. CDU und CSU konnten in der Folge dem Ministerium einen Bruch mit dem Koalitionsvertrag vorwerfen (der Versicherungsbote berichtete).

Anzeige

Schachzug im Diskurs: „Respekt-Zeigen“ schließt „Überprüfen“ aus

Über eine neue Begriffsbildung und das Austauschen der „Grundrente“ durch den Begriff „Respektrente“ verstärkte das Bundesarbeitsministerium jedoch ein Motiv der Rentenzahlung aus Sicht der SPD: Belohnung für lange Beitragszahlung auch als Hochachtung und „Respekt“. Der neue Begriff konnte nun Debatten lenken. Das veranschaulicht ein Zitat von DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach: Demnach stehe die Rente für "Respekt vor der Lebensleistung von Menschen, die lange gearbeitet, Kinder erzogen oder Angehörige gepflegt haben. Wir können diese Menschen doch nicht zum Sozialamt schicken oder leer ausgehen lassen. Das wäre das Gegenteil von Respekt.“ Der Wert eines Respekt-Zeigens schließt, so verstanden, eine Bedürftigkeitsprüfung geradezu aus.

„Respektrente“ charakterisiert Jahr 2019 „in besonderer Weise“

Die Neubildung also fast das wesentliche des SPD-Konzepts pointiert in einen Begriff. Doch nicht nur die gelungene Bedeutungsarbeit wird durch die Gesellschaft für deutsche Sprache honoriert. Sondern die Wahl veranschaulicht zugleich: Die Debatte zur Grundrente charakterisiert die politische Landschaft Deutschlands wie kaum ein zweites Thema in 2019. In diesem Kontext nennt die Presseerklärung der GfdS auch das Unterthema „Altersarmut“.

Wer nämlich wie die CDU/CSU eine Bedürftigkeitsprüfung fordert, will zusätzliches Geld nur zahlen bei wirklicher Bedürftigkeit, um zum Beispiel Auswirkungen von Altersarmut zu mildern. Die Respektrente hingegen belohnt das Prinzip der Teilhabeäquivalenz, und zwar auch ohne Bedürftigkeit: Honoriert werden langjährige Beitragszahlungen zur gesetzlichen Rente ab einer bestimmten Dauer. Bekommen aber Menschen dieses Geld auch dann, wenn sie (zum Beispiel durch Partner oder Vermögen) schon gut abgesichert sind, stehen die Beträge nicht mehr für die Armutsbekämpfung zur Verfügung. In diesem Sinne geraten beide Ziele tendenziell in einen Widerspruch – wer bedingungslos „Respekt“ zeigt über die neue Leistung, hat gezahltes Geld nicht mehr für die Armutsbekämpfung übrig.

Anzeige

Derartige Debatten gewinnen Brisanz auch aufgrund des demografischen Wandels: Die gesetzliche Rentenversicherung ächzt unter den Folgen einer alternden Gesellschaft. Für die Zukunft werden steigende Vorsorgelücken prognostiziert (der Versicherungsbote berichtete). Die Politik muss also Antworten liefern, wie eine alternde Gesellschaft finanziert werden soll und wofür knappes Geld ausgegeben werden soll.

Die Wahl zum „Wort des Jahres“ darf hierbei jedoch nicht im Sinne einer politischen Positionierung zugunsten des SPD-Konzepts fehlinterpretiert werden. Denn die Wahl gilt der Bedeutung des Begriffs nach Maßgaben der Sprachpflege.

Der leidliche Kompromiss: „Grundrente“ verdrängt „Respektrente“

Wie aber geht es nun mit der „Respektrente“ weiter? Auffallend ist: Um den Begriff ist es still geworden. Hingegen erlebt der Ausdruck „Grundrente“ auch innerhalb der SPD eine Renaissance. Das könnte damit zu tun haben, dass bei Einigung der großen Koalition herbe Zugeständnisse nötig waren: Im November präsentierte die Regierung einen Kompromiss, bei dem die Rente nach einer automatisierten Einkommensprüfung durch elektronischen Datenausgleich der Behörden gezahlt wird, wie der Versicherungsbote berichtete.

Die SPD lehnt laut Focus in diesem Kontext ab, die „Einkommensprüfung“ als „Bedürftigkeitsprüfung“ zu bezeichnen – und agiert hier weniger geschickt als bei Schaffung des Begriffs „Respektrente“. Denn Zahlungen der Rentenleistung werden ja nun doch von einer Prüfung der Bedürftigkeit abhängig gemacht – zumindest unter milderen Vorgaben.

An diesem Beispiel lässt sich ein anderes Verhalten der Politik beobachten, und zwar entgegen der Sprachpflege: Begriffe werden tabuisiert, um einen Sachverhalt zu verschleiern. Zugleich aber darf mit Annegret Kramp-Karrenbauer die CDU-Chefin freudig verkünden: Wenn man „so wolle“, gäbe es auch „eine Bedürftigkeitsprüfung“.

Anzeige

Derweil nutzt die Union die Grundrente als Druckmittel gegen das neue Führungsduo der SPD, Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans. Diese haben wiederholt den Fortbestand der Großen Koalition in Zweifel gezogen. CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer sagte am Dienstag dem Nachrichtensender n-TV, die CDU lege das Thema Grundrente auf Eis: bis sich die SPD zum Fortbestand der Großen Koalition bekannt hat. Eine "Linksverschiebung der SPD kann auf keinen Fall eine Linksverschiebung der Koalition bedeuten", sagte Kramp-Karrenbauer. Sie wolle abwarten, ob nach dem Parteitag nun Forderungen von der SPD kommen: Der Koalitionsvertrag werde aber nicht neu verhandelt.

Seite 1/2/

Anzeige