Die Provinzial Nordwest hat sehr wahrscheinlich 29 IT-Experten als Scheinselbstständige beschäftigt. Das berichtet die Süddeutsche Zeitung am Sonntag und beruft sich auf interne Dokumente des Versicherers. Demnach waren die IT-Leute als externe Berater eingestellt, obwohl sie seit mehreren Jahren in der IT-Abteilung der Münsteraner gearbeitet haben.

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“Rechtsrisiken im Bereich Steuer und Sozialversicherung“

Dem Bericht zufolge hat die Provinzial Nordwest auslaufende Verträge mit den 29 Experten nicht verlängert, so dass nun die Arbeitsplätze in der IT-Abteilung leer bleiben. Aktuell seien in den Räumen 200 IT-Experten als Freiberufler und Leiharbeiter beschäftigt. Rund 143 Verträge seien im Rahmen einer internen Revision überprüft worden. 82 davon könnten nun nicht weitergeführt werden, bei 29 bestehe der Verdacht auf Scheinselbstständigkeit.

Das Problem ist klar: Arbeitgeber müssen Steuern und Sozialabgaben zahlen, wenn sie jemanden abhängig beschäftigen. Nach §7 des SGB IV gilt jemand als abhängig beschäftigt, wenn er dem Weisungsrecht des Auftraggebers bezüglich Zeit, Ort und Art der Tätigkeit unterliegt. Auch, wenn eine Person ihren Job in Räumlichkeiten des Auftraggebers ausübt, kein eigenes unternehmerisches Risiko trägt und ein festes Gehalt erhält, ist dies ein Indiz für Scheinselbstständigkeit. Das prüfen und entscheiden der Zoll und die Deutsche Rentenversicherung (DRV) — abhängig vom Einzelfall.

Nun muss sich die Provinzial Nordwest den Vorwurf gefallen lassen, sie habe Fiskus und Sozialkassen um Beiträge prellen wollen. Und Arbeitgeber können noch mehr sparen, wenn sie beim Angestellten-Status tricksen. Denn auch die Krankenkassen-Prämien müssen Selbstständige inklusive Arbeitgeberanteil selbst stemmen. Die Behörden ahnden Scheinselbstständigkeit vergleichsweise streng: Auch, um Arbeitnehmer vor Ausbeutung zu schützen. Schließlich muss Selbstständigen nicht einmal der Mindestlohn gezahlt werden, sie arbeiten auf eigene Rechnung.

Der Provinzial Nordwest ist die Brisanz der Vorwürfe bewusst. Die „Süddeutsche“ zitiert aus einem internen Dokument, wonach dem Versicherer „Rechtsrisiken im Bereich Steuer und Sozialversicherung“ drohen. Die potentiellen Nachzahlungen an Fiskus und Rentenkasse könnten in die Millionen gehen, werden Insider zitiert. Auch Bußgelder von knapp einer Million Euro könnten fällig werden.

“Schnellstmöglich überprüfen“

Die Kieler Nachrichten haben bei der Provinzial angefragt — und ein Vorstandssprecher hat die Vorgänge eingeräumt. Man habe ein internes Projekt aufgesetzt, um „schnellstmöglich gemeinsam mit den Finanz- und Sozialversicherungsbehörden insbesondere diese Fälle zu überprüfen“, antwortete der Sprecher.

Wenig Verständnis hat die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di für die Vorgänge. „Sollte sich das bestätigen, ist es für ein Unternehmen, das mit einem öffentlichen Auftrag unterwegs ist, ein handfester Skandal und wir fordern den Vorstand auf, sofort und ohne Verzögerung die Umstände aufzuklären“, sagte Frank Fassin, Landesfachbereichsleiter für Finanzdienstleistungen in Nordrhein-Westfalen, ebenfalls den „Kieler Nachrichten“.

Outsourcing trifft auf eine sich ändernde Arbeitswelt

Das Problem potentieller Scheinselbstständigkeit betrifft aber nicht nur die Provinzial Nordwest. In einer Arbeitswelt, in der immer mehr Tätigkeiten outgesourct werden, zudem traditionelle Arbeitsmodelle dank Digitalisierung aufbrechen, stellt sich schnell die Frage, wann jemand als Arbeitnehmer bezahlt werden muss. Gerade in der Dienstleistungsbranche gibt es Grauzonen: zum Beispiel auch in der Gastronomie, bei Lieferdiensten, Paketboten oder Dozenten.

Speziell in der Liefer- und Dienstleistungsbranche sorgen immer wieder Nachrichten über Lohn-Dumping und schlechte Arbeitsbedingungen vermeintlich freier Unternehmer für Schlagzeilen. Geschäftsmodelle wie der Taxidienst Uber oder Fahrradkurier-Dienste wie Deliveroo und Lieferando begünstigen die nicht immer freiwillige Selbstausbeutung. Unter hohem Zeitdruck und gegen kleines Geld bieten hier sogenannte Solo-Selbstständige ohne eigene Angestellte ihre Dienste an. An der Kranken- und Sozialversicherung beteiligt sich der Auftraggeber nicht.

Auch Paketdienste lagern ihre Lieferarbeit an Sub-Unternehmer, Sub-Sub-Unternehmer und Sub-Sub-Sub-Unternehmer aus: So lange, bis das beauftragte Unternehmen aus einem einzigen Fahrer besteht, der mit seinem privaten PKW zum Dumpinglohn Päckchen ausliefert. So umgehen die Firmen Arbeitsschutz und Sozialversicherungsbeiträge, wie Recherchen des Bayerischen Rundfunks oder von ARD Kontraste gezeigt haben. Hier wäre der Gesetzgeber gefragt, derartige Modelle strenger zu regulieren. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hat diesbezüglich angekündigt, die sogenannte Nachunternehmerhaftung auszuweiten: Dann müssen sich auch die Auftraggeber stärker verantworten.

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Mit Blick auf die Arbeitsbedingungen muss man die Provinzial aber in Schutz nehmen: Wie die "Süddeutsche" berichtet, waren die IT-Experten wohl vergleichsweise gut bezahlt. Der durchschnittliche Stundensatz für IT-Freiberufler habe 2018 bei 86,73 Euro gelegen, heißt es im Artikel mit Berufung auf die Fachzeitschrift "Computerwoche". Vielmehr sei die Idee gewesen, Selbstständige intern zu beauftragen, damit IT-Experten projektbezogen über Drittfirmen beschäftigt werden können. Dann muss keine eigene IT-Abteilung für bestimmte Aufgaben aufgebaut werden, die dauerhaft Geld kostet, sondern die Fachleute können beauftragt werden, solange die Aufgaben anstehen. Für viele Versicherer ist ein solches Vorgehen billiger: Auch deshalb spricht vieles dafür, dass die Provinzial kein Einzelfall ist.

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