Im März präsentierte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sein „Faire-Kassenwahl-Gesetz“. Ein wichtiger Punkt war die bundesweite Öffnung der Krankenkassen. Ortskrankenkassen, die bisher nur regional tätig waren, sollten ihre Tarife nun bundesweit anbieten. Auch geöffnete Innungs- und Betriebskrankenkassen sollten nicht mehr nur in den Gebieten tätig sein dürfen, in denen sie traditionell ihre Klientel haben. „Versicherte sollen ihre Kasse bundesweit frei wählen können“, erklärte hierzu Spahn bei der Vorstellung des Gesetzes. Ausnahmen wären nur für Betriebskassen erlaubt, die eindeutig einem Trägerunternehmen zuzuordnen sind.

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Nun aber kündigt sich an, dass diese Reform scheitern wird. Sowohl die SPD als auch die Bundesländer stellen sich gegen eine bundesweite Öffnung der AOKen, so berichtet das „Handelsblatt“ am Freitag. Während der Regierungspartner in der Ressortabstimmung blockiert, haben 16 Ministerpräsidenten der Bundesländer sogar einen Brandbrief an Spahn verfasst, heißt es in dem Bericht. Damit ist nicht nur fraglich, ob das Gesetz vor der Sommerpause im Kabinett abgestimmt werden kann. Spahn wird sehr wahrscheinlich sein Vorhaben nur in einer abgespeckten Version durchbekommen, ohne dass sich die Kassenanbieter dem bundesweiten Wettbewerb öffnen müssen.

SPD blockiert die Ressortabstimmung

Beim Koalitionspartner in Bundesregierung sind es konkret die Ressorts von Bundesfinanzminister Olaf Scholz und Bundesarbeitsminister Hubertus Heil, die gegen die Pläne intervenieren. Laut „Handelsblatt“ kritisieren die beiden SPD-Politiker konkret einen Passus, wonach ehrenamtliche Entscheidungsträger von Arbeitgebern und Gewerkschaften aus dem wichtigsten Entscheidungsgremium der gesetzlichen Krankenversicherung, dem GKV-Spitzenverband, verbannt werden.

Zu den Plänen heißt es auf der Webseite des Bundesgesundheitsministeriums: „Die Strukturen des GKV-Spitzenverbandes werden modernisiert. Um eine Professionalisierung zu erreichen und die Anbindung an das operative Geschäft der Mitgliedskassen zu unterstützen, wird der Verwaltungsrat künftig nicht mehr aus ehrenamtlichen Vertretern, sondern aus Vorstandsmitgliedern der Krankenkassen gebildet“. De facto läuft dies auf eine Entmachtung der Tarifparteien im Kassensystem hinaus. Mit den beiden Sozialdemokraten wohl nicht zu machen.

Brandbrief der Landesminister

Noch grundsätzlicher ist das, was die Bundesländer an dem „Faire-Kassenwahl-Gesetz“ auszusetzen haben. Im April hatte bereits die Gesundheitsministerkonferenz der Länder einen einstimmigen Beschluss vorgelegt, wonach die bundesweite Öffnung ersatzlos gestrichen werden solle, schreibt das „Handelsblatt“. Ein Brandbrief der 16 Regierungschefs untermauere nun die Forderung, von diesem zentralen Punkt der Reform abzuweichen.

Ein wichtiger Grund für das Veto: Die Aufsicht über die Kassen würde von den Bundesländern auf den Bund übergehen, die Länder verlieren Einfluss und Gestaltungsmöglichkeiten. Durch eine Öffnung der Kassen würden „im Gesundheitswesen die förderalen Strukturen geschwächt und die Gestaltungskompetenzen verschoben“, zitiert das „Handelsblatt“ aus dem Brief.

Darüber hinaus werden „negative Auswirkungen auf das regionale Versorgungsgeschehen in den Ländern“ erwartet. Unter anderem könnten Modellprojekte nicht mehr ohne Weiteres regional begrenzt umgesetzt werden. Auch SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach hat laut „Handelsblatt“ deutlich gemacht, dass sich seine Partei gegen eine Öffnung stemmen werde.

Mehrere Gesetzesvorhaben stecken fest

Jens Spahn habe sich zum jetzigen Stand der Verhandlungen nicht äußern wollen, heißt es weiter in dem Bericht. Allerdings habe ein Ministeriumssprecher bestätigt, dass das Gesetz weiterhin "Gegenstand intensiver Beratungen" sei. Doch aktuell gibt die Große Koalition bei ihren wichtigen Gesetzesvorhaben kein gutes Bild ab. Mehrere Reformen, die im Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD angekündigt waren, kommen nicht voran und drohen ebenfalls zu scheitern.

So blockieren sich die Ressorts der Bundesminister auch bei der Grundrente, da teils völlig konträre Auffassungen zwischen Union und SPD vorherrschen. Mit der Grundrente sollen die Altersbezüge über das Grundsicherungsniveau gehebelt werden, wenn eine Person mindestens 35 Beitragsjahre zur Rentenkasse vorzeigen kann. Die Union will das Rentenplus ausschließlich an sozial Bedürftige zahlen und fordert eine Bedarfsprüfung. Die SPD hingegen will die Grundrente an alle auszahlen, die 35 Beitragsjahre erfüllen, unabhängig von ihrer Bedürftigkeit (der Versicherungsbote berichtete).

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Auch die geplante Altersvorsorgepflicht für Selbstständige kommt nicht voran, aus fast logischen Gründen: Die SPD will dieses Gesetz erst diskutieren, nachdem das Gesetzgebungsverfahren für die Grundrente angeschoben wurde: Diese besitzt aus Sicht der Sozialdemokraten Priorität.

Deutschland altert unterschiedlich

Doch Jens Spahn hat nachvollziehbare Gründe, weshalb er den Zugang zu Krankenkassen bundesweit öffnen will. Manchen Kassen könnte dadurch ein Wettbewerbsnachteil entstehen, dass in ihrer Region besonders viele Senioren leben. Sie erzeugen im statistischen Schnitt weit höhere Gesundheitskosten.

Bezüglich der Altersstruktur in Deutschland lassen Daten des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) Bonn aufhorchen. Die Behörde hat Daten des Statistischen Bundesamtes ausgewertet und kommt zu dem Fazit: „Deutschland altert unterschiedlich!“. Während das Durchschnittsalter in den Universitätsstädten Freiburg und Heidelberg 39,8 beziehungsweise 39,9 Jahre beträgt, liegt es in einigen ostdeutschen Landkreisen und kreisfreien Städten etwa zehn Jahre darüber, zum Beispiel im Altenburger Land (49,4) oder Dessau (49,5). In zahlreichen ostdeutschen Kreisen ist bereits mehr als jeder vierte Einwohner älter als 65 Jahre (Zahlen für 2015).

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Vorwurf: Der Risikostrukturausgleich begünstigt AOKen

Folglich müssten gerade Anbieter einen höheren Zusatzbeitrag erheben, die in Regionen mit vielen älteren Menschen agieren. Der Risikostrukturausgleich (RSA) sorgt aber nach der jetzigen Ausgestaltung dafür, dass gerade die Ortskrankenkassen hohe Beträge aus dem Gesundheitsfonds erhalten: Sie sind viel im ländlichen Raum aktiv und können hohe Ausgleichszahlungen geltend machen. Zuschläge werden aktuell pauschal gezahlt, wenn die Patienten an bis zu 80 Krankheiten leiden.

Der RSA führt zu Wettbewerbsverzerrungen zugunsten der AOKen, hatten wiederholt Wettbewerber geklagt. Sie konnten in den letzten Jahren hohe Rücklagen aufbauen, während Betriebs- und Innungskrankenkassen oft in den roten Zahlen steckten. Der Risikostrukturausgleich macht es hier attraktiv, sich auf bestimmte ländliche Regionen zu beschränken. „Allein aus finanziellen Gründen“ baue die AOK „ihre Marktmacht auf dem Lande aus“, kritisierte kürzlich BKK-Vorständin Sigrid König (der Versicherungsbote berichtete).

Statt um die beste Versorgung vor Ort zu konkurrieren, sollen nun die Kassen in einen „überregionalen Preiswettbewerb“ treten, so Spahns Pläne. Der RSA soll freilich auch durch Spahns Gesetzesreform reformiert werden.

Deutschlands Regionen altern unterschiedlich: Besonders viele Seniorinnen und Senioren leben im Osten. Quelle: BBSR, Zahlen für 2015

Überregional erfolgreich vs. Ansprechpartner vor Ort

Laut GKV-Spitzenverband gibt es aktuell 109 Krankenkassen in Deutschland. Während die großen Ersatzkassen Techniker Krankenkasse, Barmer und DAK bundesweit agieren, sind die Ortskrankenkassen auf bestimmte Gebiete beschränkt. In manchen Regionen haben die AOKen ein Quasi-Monopol: in Bayern haben sie Stand 2018 einen Marktanteil von 41 Prozent, in Sachsen waren es gar 56 Prozent.

Dass es keinen Wettbewerbsnachteil bedeuten muss, bundesweit aufgestellt zu sein, zeigt gerade die Techniker Krankenkasse (TK). Mit aktuell 11,7 Millionen Versicherten ist sie der Branchenprimus unter allen Krankenversicherern in Deutschland: zumindest, wenn man die AOKen einzeln nach Region betrachtet. Dabei profitiert die TK auch von einem großen und bunt aufgestellten Versichertenkollektiv, so dass Risiken und Kosten breit gestreut sind.

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Allerdings ist diskutabel, ob es nicht völlig unrealistisch ist, dass sich ein Mitglied der AOK Nordwest bei der AOK in Sachsen-Anhalt pflichtversichert. Regionale Ansprechpartner und Netzwerke vor Ort sind schließlich wichtige Trümpfe, weshalb eine Person seiner Ortskrankenkasse treu bleibt: Das zeigen mehrere Studien, zum Beispiel des Deutschen Instituts für Service-Qualität (DISQ). Viele Versicherte nehmen dafür höhere Zusatzbeiträge in Kauf. Hier ist fraglich, ob bisher regional begrenzte Ortskrankenkassen bundesweite Netzwerke schaffen können - eventuell durch die Kooperation mit anderen AOKen.

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