Noch vor fünf bis zehn Jahren standen Themen wie Sustainability oder Environmental, Social und Governance (ESG) bei den wenigsten Versicherern auf der Agenda. Es waren vielmehr kleine Reporting-Themen als ein Kernbaustein der Strategie – wenn man von den Rückversicherern und Risikomodellierern absieht. Diese hatten frühzeitig gerade die ökologischen Risiken und ihre Folgen im Fokus.

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Markus ZimmermannMarkus Zimmermann... ist Leiter Strategieberatung Versicherungen bei Accenture (DACH).www.accenture.com

Mit der zunehmenden Dringlichkeit hat sich inzwischen der Blick in der Breite der gesamten Versicherungsindustrie gewandelt. Aber was bedeutet Nachhaltigkeit für Versicherungsunternehmen konkret, und wie kann man die Chancen und Potenziale daraus erfolgreich angehen?

Die „historische“ Antwort: Regulatorische Anforderungen rund um ESG erfüllen

Spätestens seit den Leitlinien zur Berichterstattung über klimabezogene Informationen, die im Jahr 2018 von der EU-Kommission veröffentlicht wurden, treibt die Regulatorik in großen Schritten die ESG-Themen voran, sprich: die Berücksichtigung von Umweltfolgen, sozialer Verantwortung und guter Unternehmensführung. Die initiale Antwort fast aller Versicherungshäuser war, die jeweils aktuellen Anforderungen und Kriterien aus der ESG-Regulatorik bestmöglich in Reporting zu übersetzen.

Als Erstes stand demnach die Sicherstellung von Compliance im Fokus. Das bedeutete in der Regel, zu den neuen Anforderungen erst einmal notwendige Informationen zu identifizieren und in Reporting-Prozesse zu bringen. Dieses eher technokratische Vorgehen war essenziell, um die notwendige Basis und das notwendige Bewusstsein für die ESG-Themen in Versicherungsunternehmen zu schaffen sowie Nachhaltigkeit mehr und mehr in die operative wie auch strategische Steuerung mit aufzunehmen. Der Anfang war also gemacht, aber der Weg zu effektiven Nachhaltigkeitsstrategien noch lang – sowohl mit Blick auf das eigene Betriebsmodell als auch aus Sicht der Produkte, Services und Prozesse für die Versicherten.

Nachhaltigkeit nach Innen: Das eigene Betriebsmodell nachhaltig umbauen

„Net Zero“ ist das Ziel vieler Unternehmen für einen jeweils selbst definierten Zeitraum. Es geht darum, die eigenen klimarelevanten Verbrauchsgrößen maximal zu reduzieren, beispielsweise bei Energie, Strom, Wasser oder Abfall. Versicherer haben es gegenüber vielen produzierenden Industrien naturgemäß leichter, ihren ökologischen Footprint auf ein Minimallevel zu bringen. Dennoch steht dahinter eine Herausforderung in vielen Dimensionen: Vom Gebäude- und Energiemanagement über Arbeitsplatzmodelle oder Reiseintensität bis hin zu IT-Infrastruktur und Operations-Management. Ebenso geht es neben all diesen „harten Faktoren“ um einen tiefgreifenden kulturellen Wandel bei den Mitarbeitenden, um nachhaltiges Handeln zu fördern und sukzessive in alltägliche Verhaltensmuster, Prozesse und Entscheidungen zu integrieren.

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Neben den „Environmental“-Themen müssen auch die „Social“ und „Governance“-Aspekte in den Umbau des eigenen Betriebsmodells und der eigenen Unternehmensphilosophie mit einfließen. Diversität und Inklusion stehen hier ebenso auf der Agenda wie die Vereinbarkeit von Beruf und Familie oder die physische und mentale Gesundheitsförderung für die Belegschaft. Wesentlich für den Erfolg dieser Bausteine ist es, von der reinen Überschriftenebene auf konkrete Ziele und praktische Maßnahmen im eigenen Betrieb zu kommen – beispielweise durch ausreichend Plätze im Betriebskindergarten, divers aufgestellte Teams oder wirksame Karriereförderung von Frauen. Und wie immer gilt: Du erreichst nur, was Du auch misst. Alle betriebsinternen Dimensionen von ESG brauchen regelmäßige Erfolgsmessungen und klare Verzielung auf den Führungsebenen.

Nachhaltigkeit nach Außen: Die Kernelemente des Geschäftsmodells erweitern und neu ausrichten

Während die Erfolgstreiber für Nachhaltigkeit „nach Innen“ quer über die Industrien oft sehr ähnlich aussehen, sind die Nachhaltigkeitselemente im Geschäftsmodell „nach Außen“ sehr industriespezifisch. Wenn Versicherer diese Hebel richtig einsetzen, können sie enorme Wirkung entfalten – sei es über Zeichnungsausschlüsse, Kapitalanlagepolitik, neue Produktkonzepte oder nachhaltiges Schadenmangement.

Über ihre Kapitalanlagepolitik können Versicherer unmittelbar Einfluss auf die großen Treiber von Klimawandel, sozialer Gerechtigkeit und verantwortungsvoller Unternehmenspolitik nehmen. Ein typischer Hebel dafür sind Nicht-Investments in bestimmte Unternehmen oder auch ganze Branchen: So können Geschäftsaktivitäten mit Teilen der Waffenindustrie oder im Kohle- und Ölsektor mittlerweile zum Ausschluss bei der Kapitalanlage führen. Gleiches gilt natürlich für Unternehmen, die den Schutz von Menschenrechten nicht achten. Es geht aber auch umgekehrt durch positive Anreize: Versicherer können verstärkt in Unternehmen und Branchen investieren und damit diejenigen fördern, die nachhaltige Lösungen entwickeln und potenziell zu Gewinnern der grünen Transformation werden. In beiden Ausprägungen der Kapitalanlage gilt: Als einer der größten institutionellen Investoren hat die Versicherungsbranche global wie regional einen enormen Hebel zur Förderung von ESG-Zielen in der Hand.

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Ähnlich im Underwriting: Durch den Zeichnungsausschluss bestimmter Industriezweige, Geschäftsaktivitäten oder Risiken kann die Versicherungswirtschaft ESG-Ziele signifikant unterstützen. Und auch ohne kompletten Ausschluss kann ein differenziertes Underwriting ESG-Anreize schaffen, um Kund:innen (indirekt) zum Umdenken zu motivieren. So braucht es beispielweise spezifische Underwriting-Anforderungen, wenn es um nachhaltig gebaute Gebäude geht, zu denen es in der Regel weniger historische Daten und Erfahrungswerte gibt. Ein Versicherer muss sich hier unter anderem mit den Details von grünem Zement beschäftigen, statt pauschale Risikoaufschläge dafür zu veranschlagen. Egal ob im Underwriting oder in der Kapitalanlage: Zunehmende nationale wie internationale Leitlinien und Regularien setzen hier mehr und mehr einen starken Rahmen für die Förderung von ESG-Zielen durch die Versicherungswirtschaft.

Daneben müssen die Versicherer Nachhaltigkeit noch stärker zum integralen Bestandteil ihrer Produkte und Kundenprozesse machen. In der Produktentwicklung gibt es erste Beispiele, in denen innovative Angebote ESG-Themen aufgreifen und nachhaltige Ergebnisse unterstützen – unter anderem durch Versicherungskonzepte für „Nutzen statt Besitzen“ oder für E-Mobilität. Insgesamt steht Nachhaltigkeit in den Produkten derzeit noch am Anfang. Auch im Schadenmanagement gibt es noch viel zu tun, hier zeigt die Praxis allerdings bereits deutliche Fortschritte: „Reparatur statt Tausch“ ist ein gutes Beispiel, wie Ressourcen geschont und Müllmengen vermieden werden können. „Building Back Better“ berücksichtigt die Klimafolgen beim Wiederaufbau und Betrieb von zerstörten oder beschädigten Gebäuden. Nachhaltiges Schadenmanagement unterstützt das Prinzip der Kreislaufwirtschaft und sorgt so für einen bewussteren und schonenderen Umgang mit Ressourcen und Emissionen. Schließlich die Schadensteuerung, wo bei der Auswahl von Dienstleistungspartnern zur Schadenbehebung ESG-Kriterien eine wichtige Rolle spielen können. Die deutsche Versicherungswirtschaft hat sich in diesem Sinne verpflichtet, bis 2025 zunehmend Nachhaltigkeitskriterien in ihre Praxis der Schadensregulierung zu integrieren.

Nachhaltigkeit wirksam im Unternehmen verankern

Bleibt die Frage, wie ein Versicherer die ESG-Agenda in seiner eigenen Organisation sowie in seinen Produkten und Services „nachhaltig“ verankern kann. Was Themen wie CO2-Neutralität und ESG-Reporting anbelangt, gibt es mittlerweile in den meisten Unternehmen klare Rollen und Zuständigkeiten. Häufig sind diese rund um Compliance, Reporting oder auch explizite Sustainability oder Responsibility Verantwortlichkeiten gebündelt oder koordiniert. Ähnlich ist es bei Kapitalanlagen und im Underwriting. Nachhaltigkeitskriterien sind hier zum integralen Bestandteil der Anlage- bzw. Zeichnungspolitik geworden, inklusive entsprechender Rollen und Reportings.

Weniger klar ist das Bild bei der Verantwortung für Nachhaltigkeit in Produkten und Prozessen: Es gibt nicht die eine typische Rolle, sondern eine Vielzahl an Verantwortlichkeiten, von der Produktentwicklung bis hin zum Schadenmanagement – und das für jede Sparte und jedes Produktsegment in unterschiedlicher Ausprägung. Ein wichtiger Ansatz ist hier, Nachhaltigkeitsthemen in die Breite der Verzielung von Führungskräften zu integrieren und damit das Thema bewusst auf die Agenda bei jeder Produktinnovation und jedem Servicedesign zu setzen. Damit wird auch der notwendige Kulturwandel unterstützt, um Nachhaltigkeit sukzessive von einer „Nebenanforderung“ zum integralen Bestandteil von Versicherungsprodukten und Prozessen zu machen.

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In Zeiten wachsender ESG-Transparenz und steigendem Bewusstsein für Nachhaltigkeit bleibt eine fehlende oder unzureichende Agenda den Versicherten nicht lange verborgen. Sie werden sich schlichtweg am Markt umorientieren. Ohne konsequente ESG-Strategie und ohne erkennbare Nachhaltigkeitseffekte im eigenen Unternehmen sowie auch für unsere globale Ökonomie wird ein Versicherer den Wettbewerb um Kund:innen und Partner künftig nicht mehr gewinnen können.

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