Es war einer der größten Medizinskandale in Europas Geschichte: Der französische Hersteller Poly Implant Prothèse SA (PIP) hatte minderwertige Brustimplantate verkauft, rund 400.000 Frauen waren betroffen. Mit billigem Industriegel gefüllt, hatten die Implantate Schmerzen und Entzündungen ausgelöst, sie bedeuteten ein erhöhtes Krebsrisiko. Die Implantate drohten zudem zu platzen: und mussten operativ entfernt werden. 2010 wurde der Skandal aufgedeckt, der Medizinhersteller ging pleite. Gründer Jean-Claude Mas wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt.

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Ein Zwielicht warf der Skandal auch auf den TÜV Rheinland. Der Dienstleister aus Köln hatte die Pfusch-Implantate europaweit zertifiziert und ein entsprechendes Prüfsiegel vergeben. Und muss nun eine juristische Niederlage hinnehmen, nachdem man sich in einem jahrelangen Rechtsstreit dagegen wehrte, mögliche Fehler bei der Prüfung der potentiell tödlichen Medizinprodukte einzugestehen. Das Handelsgericht Toulon hat den TÜV zu Schadensersatz in Millionenhöhe verurteilt, wie die Deutsche Presse-Agentur (dpa) berichtet. Demnach sollen die rund 1.600 Klägerinnen eine vorläufige Entschädigung von je 5.150 Euro erhalten - insgesamt 8,2 Millionen Euro. Ein Sachverständiger soll den Sachverhalt darüber hinaus weiter prüfen.

Bereits im Februar 2021 hatte ein Berufungsgericht in Aix-en-Provence den TÜV zu Schadensersatz verurteilt, weil der TÜV Prüfpflichten verletzt habe. Knapp 13.500 Klägerinnen erhielten demnach in Summe 60 Millionen Euro zugesprochen. Andere Verfahren gingen jedoch zum Nachteil der klagenden Frauen aus. So musste vor zwei Jahren eine deutsche Patientin eine Niederlage vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) erleiden, als sie Schadensersatz von einer französischen Allianz-Tochter forderte: Haftpflichtversicherer von PIP. Eine Klausel in den Verträgen sah vor, dass der Versicherer nur innerhalb von Frankreich haftet, nicht aber in Deutschland.

Hätte der TÜV strenger prüfen müssen?

Der TÜV zeigt jedoch kein Entgegenkommen gegenüber den Geschädigten - und kündigte laut dpa Berufung an. Er will vor den Kassationshof ziehen: Frankreichs oberstes Gericht. Dabei stellt sich die Frage, ob und in welchem Umfang die Rheinländer die Implantate hätten prüfen müssen:

Die Anwälte der Frauen argumentieren, dass der Betrug vom TÜV hätte aufgedeckt werden können, wenn man die Firma und Produkte unangemeldet kontrolliert hätte. Das erfolgte nicht. Die Prüfer können sich hingegen auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs von 2017 berufen. Er entschied, dass Zertifizierungsstellen -bzw. sogenannte Benannte Stellen- nicht generell verpflichtet seien, unangemeldete Besichtigungen durchzuführen oder die Medizinprodukte bzw. die Geschäftsunterlagen des Herstellers zu prüfen, wenn es keinen Anhaltspunkt auf Betrug gäbe.

Der TÜV Rheinland sieht sich selbst als Opfer des Betrugs. „TÜV Rheinland lagen außerdem zu keinem Zeitpunkt im Rahmen seiner Tätigkeit für PIP Anhaltspunkte dafür vor, dass die Brustimplantate von PIP möglicherweise nicht konform waren“, zitiert dpa Anwältin Christelle Coslin, die den TÜV vertritt. Man weise eine Haftung in der Sache von sich. Auch in Deutschland hatten mehrere Gerichte zugunsten des TÜV entschieden.

Anforderungen an Medizinprodukte nach PIP-Skandal verschärft

Doch welchen Zweck haben Prüfzertifikate, wenn sie nicht die Sicherheit und Qualität von medizinischen Produkten gewährleisten können - ja, wenn sogar schädliche und potentiell tödliche Produkte eine TÜV-Plakette erhalten? Der PIP-Skandal warf auch ein Licht auf die laschen Anforderungen, die in der EU für Medizinprodukte galten. Die Europäische Union hat reagiert und die Regeln für Medizinprodukte verschärft: Ergebnis war die Verordnung (EU) 2017/745 über Medizinprodukte, die am 25. Mai 2017 in Kraft trat. Besondere Pointe: Die sogenannten "Benannten Stellen", die eigentlich die Qualität der Produkte prüfen sollen, werden laut der reformierten Richtlinie von einem weiteren Prüfgremium überwacht: Ein Watchdog für die Watchdogs sozusagen.

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Aber noch immer bewerten Kritiker die Regeln als zu wenig streng, wie tagesschau.de berichtet. Aufgeteilt sind Medizinprodukte in mehrere Risikoklassen: Lediglich bei Hochrisiko-Produkten muss eine benannte Stelle überhaupt extra prüfen, damit die Hersteller das benötigte CE-Kennzeichen erhalten. Die benannten Stellen werden vom Hersteller direkt bezahlt: Die Konzerne dürfen sich aussuchen, wo sie testen lassen. Medizinische Studien können zudem über den sogenannten Äquivalenz-Weg übergangen werden: Die Hersteller berufen sich dabei auf bereits vorliegende Produkte, selbst wenn sie neue Materialien verwenden. Weder Medizin-Hersteller noch die Zertifizierungs-Stellen geben Dokumente zu den Produkten und Studien heraus: auch deshalb sind potentielle Risiken sowohl für Mediziner als auch Verbraucher schwer einzuschätzen.

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