Man kennt es von der letzten Bundestagswahl 2017: Koalitionsverhandlungen zwischen verschiedenen Parteien drehen sich im Kreis, bis es – nach vielen Wochen – eine Neuauflage der Großen Koalition zwischen SPD und CDU gibt. Auch für das Ergebnis der Bundestagswahl 2021 ist dies eine gar nicht unrealistische Vorstellung: 206 Sitze hat nach jetzigem Stand die SPD im Bundestag gewonnen, 196 Sitze haben CDU und CSU. Eine Große Koalition würde demnach die nötige Mehrheit von mindestens 368 Sitzen erreichen.

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Die Große Koalition: Nicht "des Teufels", aber letzte Option

Und es gibt einen ersten Flirt von Seiten der CDU: Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff äußerte bei Anne Will: „Auch eine große Koalition ist nicht des Teufels“ Und das, obwohl weder SPD noch CDU eine Weiterführung der Großen Koalition wollen. Denn beide Parteien sind des alten Koalitionspartners überdrüssig:

Olaf Scholz verkündete schon im Vorfeld der Wahlen, es sei sein "klares Ziel", dass sich „CDU und CSU in der Opposition erholen können“. Und CDU-Spitzenkandidat Armin Laschet sprach sich schon vor der Wahl deutlich für eine Jamaika-Koalition aus – ebenso wie FDP-Chef Christian Lindner.

Diese Koalition – ein Bündnis von CDU, FDP und Grünen – würde es auf 406 Sitze im Bundestag bringen – und hätte demnach die nötige Mehrheit. Aber natürlich hofft auch Wahlsieger Olaf Scholz auf ein Bündnis mit Grünen und FDP – die „Ampel“ aus SPD, Grünen und FDP brächte es auf 416 Sitze. Die Mehrheit wäre hier sogar noch komfortabler als bei "Jamaika".

Sondierungsgespräche zwischen Grünen und FDP: Gelingt die Quadratur des Kreises?

Sondierungsgespräche zwischen Grünen und FDP sind bereits anberaumt. Und die Patt-Situation bringt beide Parteien anscheinend in eine komfortable Lage. Das drückt Spiegel-Redakteur Stefan Kuzmany in einem Kommentar aus: Würden Grüne und FDP sich „schlau anstellen“ und „vorher miteinander abstecken, welche jeweiligen Herzensanliegen sie gemeinsam zur Bedingung machen“, könnten sie SPD und Union in den anstehenden Sondierungsgesprächen "praktisch jedes Zugeständnis abknöpfen".

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Das Problem freilich ist: Dazu müssten sich beide Parteien erst einmal auf ein gemeinsames Vorgehen einigen. Und mit Blick auf die Wahlprogramme wirkt dies wie die berüchtigte Quadratur des Kreises:

  • Beispiel Steuern: Die Grünen wollen mehr Steuergerechtigkeit durch Anhebung des Spitzensteuersatzes erreichen: auf 45 Prozent ab 100.000 Euro Jahreseinkommen für Alleinstehende (200.000 Euro für Paare) und auf 48 Prozent bei einem Jahreseinkommen ab 250.000 Euro (bzw. 500.000 Euro für Paare). Außerdem will die Partei eine Vermögenssteuer einführen: Bei Vermögen oberhalb von zwei Millionen Euro pro Person soll jährlich ein Prozent davon an die Länder gehen. Die FDP hingegen will, dass der Spitzensteuersatz erst später greift (ab einen Einkommen von 90.000 Euro statt wie derzeit 57.919 Euro), hat sich zudem weitere Steuersenkungen auf die Fahnen geschrieben.
  • Beispiel Gesundheitssystem: Die Grünen wollen die Bürgerversicherung, in die alle einzahlen – auch Beamte, Selbständige, Unternehmer und Abgeordnete. Die FDP hingegen will das duale System zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung nicht nur erhalten, sondern auch mehr Freiheit beim Wechsel zwischen beiden Teilsystemen ermöglichen.
  • Beispiel Tempolimit: Die Grünen werben für ein „Sicherheitstempo 130 auf allen Autobahnen“, das auch den Klimaschutz unterstützen soll. Die FDP hingegen ist strikt gegen ein generelles Tempolimit.

Die Wirtschaft fürchtet lange Koalitionsverhandlungen

Die viel zitierten „Königsmacher“ werden Grüne und FDP demnach nur, wenn sie die eigenen Differenzen überwinden. Ansonsten hätte weder Schwarz-Gelb noch Schwarz-Grün die nötige Mehrheit (hier wären es nur 314 Stimmen). Ebenso wenig hätte ein Bündnis aus Rot-Grün-Rot – von SPD mit Grünen und Linkspartei – die nötige Mehrheit (man käme hier nur auf 363 Stimmen). Scheitert also eine Einigung zwischen Grünen und FDP, wird eine Neuauflage der Großen Koalition wahrscheinlicher.

Die Wirtschaft fürchtet lange Koalitionsverhandlungen

Die Koalitionsbildung ist also äußerst schwierig – und könnte lange Verhandlungen provozieren. Dies aber fürchten Vertreter der Wirtschaft. Denn Deutschland findet sich in einer wirtschaftlich fragilen Situation nach Corona – und das mit einer Vielzahl an Aufgaben, die keinen Aufschub zulassen. So warnt mit Martin Klein der Vorstand des Branchenverbands VOTUM Verband Unabhängiger Finanzdienstleistungs-Unternehmen in Europa: Die Politik dürfe sich jetzt nicht „in ewiglangen Sondierungsgesprächen und Koalitionsverhandlungen über Randthemen verlieren“, sondern müsse „schnell zusammenfinden, um die großen Herausforderungen anzugehen: Klimaschutz, Multilateralismus, Freihandel, aber auch Rente und Bürokratieabbau.“

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Klein fordert im Namen des Verbands: Lieber “sich gemeinsam auf den Weg machen und das dringend benötigte Modernisierungsjahrzehnt einläuten“, statt „wieder monatelang einen 174-seitigen Koalitionsvertrag auszuhandeln, der das Papier nicht wert ist, auf dem er geschrieben ist!“

Die Themen warten nicht

Weniger polemisch, aber ähnlich fordernd klingt der Hauptgeschäftsführer des Gesamtverbands der Versicherungswirtschaft (GDV) Jörg Asmussen. Wäre es doch wichtig, dass die Parteien jetzt rasch eine handlungsfähige Regierung bilden: „Die Themen warten nicht: Im November findet die UN-Klimakonferenz COP 26 statt. Ab 1. Januar übernimmt Frankreich die EU-Präsidentschaft. Und aus Sicht der Versicherer stehen zentrale Dossiers wie die Solvency-II-Review auf der Tagesordnung“, mahnt der Funktionär des Verbands.

Deutschland steht „vor den schwierigsten Herausforderung seit langer Zeit“

Noch drastischer bewertet Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), die Gefahr langer Koalitionsverhandlungen: Deutschland stehe „vor den schwierigsten Herausforderung seit langer Zeit.“ Demnach müsse die neue Bundesregierung „schnell wegweisende Entscheidungen zum Klimaschutz, zur digitalen Transformation und zur sozialen Erneuerung treffen“. Ansonsten würde nicht weniger als „Deutschlands wirtschaftlicher Wohlstand" auf dem Spiel stehen.

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Sogar Europa wäre beim langen Hinauszögern einer Regierungsbildung gefährdet – und könne „im Systemwettbewerb mit China und den USA ins Hintertreffen geraten". Aus diesem Grund mahnt der Experte: Die Bundesregierung solle sich „schnell finden und in den ersten 100 Tagen ein überzeugendes Programm mit Schwerpunkt Zukunftsinvestitionen, Entbürokratisierung und einer stärkeren Integration Europas angehen“.

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