Der Verbraucherverband Bund der Versicherten (BdV) zählt zu den schärfsten Kritikern der Lebensversicherung: Und wählt hierfür oft sehr drastische Worte. So auch für die neueste Solvenzanalyse, für die der Verband wieder mit dem Analysten Carsten Zielke zusammengearbeitet hat. „Die Lage der deutschen Lebensversicherer ist dramatisch“, steht da gleich zum Einstieg in den dazugehörigen Pressetext. Fast die Hälfte von ihnen erreiche die erforderliche Mindestsolvenz nur mithilfe von Übergangsmaßnahmen oder dem Griff in die Tasche der Kundinnen und Kunden, heißt es weiter. 23 der untersuchten 80 Versicherer hätten zudem ernste Probleme.

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Schärfere Maßstäbe als die BaFin

Mehr als die Hälfte der Versicherer hat Probleme? Das hat auch damit zu tun, dass der BdV die Solvenzberichte anders einordnet als die zuständige Aufsichtsbehörde Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin). Seit 2017 müssen dort alle Lebensversicherer jährlich ihre Hose runterlassen und umfangreiche Berichte vorlegen, aus denen hervorgehen soll, wie sich Eigenkapital, Verpflichtungen gegenüber Kundinnen und Kunden sowie die Risikotragfähigkeit des Versicherers darstellt.

Doch bis zum Jahr 2032 dürfen die Lebensversicherer mit erleichterten Übergangsregeln rechnen, damit ihnen der Übergang in das strengere Solvency II-Regime leichter fällt: Die EU hatte nach den Erfahrungen der Finanzkrise die Bedingungen für Versicherer deutlich verschärft. 60 von 82 Leben-Anbietern machen derzeit von den Bilanzhilfen Gebrauch. Das wird ihnen zugestanden. Auch dürfen sie bei der Risikobewertung stark vereinfacht schwankende Marktwerte ausgleichen, wenn sie lang laufende Anleihen halten: weil diese einen festen Endwert haben, wenn sie gehalten werden, aber ihr Wert zwischenzeitlich sehr volatil sein kann.

Die BaFin unterscheidet folglich eine Brutto-Solvenzquote und eine Netto-Solvenzquote, wobei erstere derzeit aufsichtsrechtlich relevant ist: hier sind Übergangsmaßnahmen und sogenannte Volatilitätsanpassungen eingerechnet. Dieser Brutto-Schwellenwert muss über 100 Prozent liegen. Und obwohl der Wert in Corona-Zeiten leicht gesunken ist, toppte er den geforderten Schwellenwert deutlich: Das Verhältnis von anrechenbarem Eigenmitteln und Kapitalanforderungen lag laut einer Analyse des Zweitmarkt-Anbieters Policen Direkt bei 390,11 Prozent. 15 Versicherer befinden sich derzeit in Manndeckung der BaFin, weil die Aufsicht hier mittelfristig Probleme sieht.

Carsten Zielke und der BdV rechnen dem entgegen aber mit einer noch schärferen Vorgabe. Sie erheben nicht nur die strengere Netto-Solvenzquote, sondern schauen zusätzlich darauf, welche Versicherer die Überschussbeteiligung zum Nachteil der Kundinnen und Kunden kürzen mussten.

Der Hintergrund: Aus Kundengeldern gebildet, sind die Sparerinnen und Sparer eigentlich angemessen an den Überschüssen des Sparanteils -also abzüglich der Kosten- zu beteiligen. Sie dürfen aber auf Antrag bei der Finanzaufsicht gekürzt werden: wenn die Versicherer nachweisen können, dass die Garantiezusagen nicht sicher sind. Die Überschussbeteiligung setzt sich zusammen aus den Kapitalgewinnen des Versicherers sowie aus Risikogewinnen -etwa, wenn bei Renten der Versicherte früher verstirbt- und Kostengewinnen: Wenn der Versicherer sparsamer wirtschaftete als geplant.

“Erstmals reine Solvenz ohne Kundengelder“

Dieses strengere Verfahren, das von den Vorgaben der BaFin abweicht, führt nun zu der Aussage, das Gros der Versicherer habe Solvenzprobleme. Erstmals sei in der Analyse auch die reine Solvenz ohne Kundengelder ermittelt worden, berichtet der BdV im Pressetext:

„42 der 80 untersuchten Lebensversicherungsunternehmen reißen diese Solvenzhürde. Das heißt, 53 % aller Unternehmen können nur unter Zuhilfenahme von Übergangsmaßnahmen, Volatilitätsanpassungen und/oder Kundengeldern die geforderte Solvenz nachweisen“, sagt Axel Kleinlein, Vorstandssprecher des BdV. Und weiter: „Würden die Versicherten tatsächlich alle die ihnen gehörenden Überschüsse ausgezahlt bekommen, dann ist mehr als die Hälfte der Versicherer angezählt.“ Sein Fazit: Einige Versicherer werden in den nächsten Jahren nicht überleben: und müssen ihre Bestände in den Run-off schicken. Die Verträge werden dann nur noch abgewickelt, das Neugeschäft wird eingestellt.

DAV: Analyse verleitet zu Fehlinterpretationen

Auf wenig Gegenliebe stößt die Analyse von Carsten Zielke und des BdV folglich bei anderen Branchen-Experten. Herbert Schneidemann, Chef der Deutschen Aktuarvereinigung DAV, warnt, dass derartige Analysen zu Fehlinterpretationen verleiten könnten: und unter Sparerinnen und Sparern Panik stiften. Man dürfe das Verwenden von Übergangsmaßnahmen nicht als Schwäche werten, da sie eine laufende und ressourcenschonende Verbesserung der Risikotragfähigkeit erlauben würden, sagte er der Berliner „Tagesspiegel“. Das sei im Sinne des kollektiven Verbraucherschutzes zu begrüßen. Zu ergänzen wäre hier, dass die Lebensversicherer gesetzlich verpflichtet sind, Garantien mit lang laufenden Anleihen zu unterfüttern: und auch deshalb nur langsam ihre Geldanlage umstellen können.

Ähnlich äußert sich Jörg Asmussen, Hauptgeschäftsführer des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV). „Die Solvenzlage der deutschen Lebensversicherer ist nachweislich besser als vom Bund der Versicherten (BdV) dargestellt. Die Methodik ist zudem willkürlich, denn der BdV stützt seine Aussagen zur Lebensversicherung nicht auf die durch Solvency II gesetzlich vorgegebene, sondern auf eine von Zielke Research Consult selbst ermittelte ‚reine‘ Solvenzquote“, sagt der Cheflobbyist der deutschen Versicherer. Und weiter: „Kein Kunde muss sich Sorgen um seine Lebensversicherung machen. Die garantierten Leistungen sind gesichert“. Das gehe auch aus Prognoserechnungen der BaFin hervor.

Verrentungszwang in geförderter Vorsorge soll entfallen

Carsten Zielke und der BdV machen auch Reform-Entwürfe, um die Lebensversicherer wieder stabiler dastehen zu lassen. So solle der Verrentungszwang in der staatlich geförderten Altersvorsorge abgeschafft werden: „Wir fordern, dass der bestehende Verrentungszwang bei Riester- und Rürup-Renten endlich aufgehoben wird“, so Kleinlein. Schon früher hatte der Verband eine Basisdepot-Vorsorge vorgeschlagen: vergleichbar mit einem Wertpapierdepot, das allerdings eine vorzeitige Kündigung, Auszahlung, Beleihung oder Abtretung der geförderten Bestandsteile vor dem 62. Lebensjahr ausschließt. Dann könnte mehr Geld in Aktien und Fonds gesteckt werden als in Anleihen, die aktuell wenig bis gar nichts abwerfen. In konkret zu definierenden sozialen Notlagen seien aber förderschädliche Teilentnahmen möglich.

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Die Idee: ab dem Rentenbezugsalter können Gelder aus der Altersvorsorge frei entnommen werden. Dies sei in Form einer regelmäßigen Rente, als Entnahmeplan, einer einmaligen Summe oder auch unregelmäßig möglich. Zudem könne das Kapital, das nach dem Tod vorhanden ist, vererbt werden, weil es eben Eigentum des Kunden sei. Allerdings würde damit auch die Absicherung gegen das Langlebigkeitsrisiko entfallen: quasi eine lebenslange Rente.

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