Versicherungsbote: Die Zusatzbeiträge der Krankenkassen könnten in den kommenden Jahren stark steigen, warnt der GKV-Spitzenverband. Als Ursachen werden die Alterung der Gesellschaft, medizinischer Fortschritt und Gesetzesreformen von Jens Spahn genannt, vor allem zur Stärkung der Pflege. Ihre Prognose – wird es für die gesetzlich Versicherten teurer? Und wenn ja, um wie viel?

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Björn Hansen: Ich teile die Prognose des GKV-Spitzenverbands zu steigenden Zusatzbeiträgen und auch die genannten Gründe. Allerdings wird sich diese Dynamik unterschiedlich auf die einzelnen Krankenkassen auswirken. An den Auswirkungen ändern auch die deutlichen Überschüsse der letzten Jahre über die gesamte gesetzliche Krankenversicherung nichts. Denn bei politischen Entscheidungen – nicht nur von Jens Spahn – führt ein solch gefüllter Topf leider zu Begehrlichkeiten. Diese haben dazu geführt , dass Leistungen zwar verbessert wurden, die Kosten aber in der Zukunft sehr hoch sein werden. Über eine nachhaltige Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung wurde leider bisher noch nicht nachgedacht.

Björn Hansen ist Vorstand der BKK WIRTSCHAFT & FINANZENBKK WIRTSCHAFT & FINANZENNun gibt es Fehlanreize im Gesundheitssystem, die hohe Ausgaben der Krankenkassen begünstigen. Ein oft gehörter Kritikpunkt: In kaum einem anderen vergleichbaren OECD-Land wird so oft an Knien, Wirbelsäule und Hüfte operiert, anstatt auf ambulante Therapien zurückzugreifen – auch, weil es sich für Ärzte und Kliniken lohne. Berechtigte Kritik? Muss vielleicht die Finanzierung derartiger OPs auf den Prüfstand?

Die Kritik ist durchaus berechtigt. Das Thema wird auch immer wieder angesprochen, dann aber wieder tabuisiert. In der Tat stellt sich die Frage, warum die in Deutschland lebenden Krankenversicherten deutlich häufiger zum Arzt gehen und warum die von Ihnen genannten Operationen wesentlich häufiger durchgeführt werden. Ein Thema von vielen ist dabei sicher auch die Vergütung von Ärzten und Krankenhäusern. Die gegenwärtige Finanzierung der Ärzte über Budgets wurde in den 1990er Jahren vom damaligen Gesundheitsminister Horst Seehofer eingeführt. Seinerzeit war das auch richtig so. Inzwischen haben sich aber viele Voraussetzungen teilweise drastisch geändert. Ob das System noch zeitgemäß ist, ist wohl eher zu bezweifeln.

Das Gleiche gilt für die Krankenhäuser. Der Krankenhausbetrieb muss sich heutzutage ökonomisch rechnen, dazu müssen Einnahmen generiert werden. Diese erzielt man nur mit einer möglichst großen Auslastung. Die derzeitige Vergütungsstruktur nach Fällen unterstützt aber eine Kostenspirale. Neben der Vergütungsstruktur muss auch die Krankenhausbedarfsplanung auf den Prüfstand.

Der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Gassen, hat vor wenigen Monaten den gesetzlich Versicherten eine "irrsinnige Anspruchshaltung“ vorgeworfen, weil sie Facharzt-Hopping betreiben würden. Mit Verlaub: Mein 87jähriger Großvater aus einer Ostthüringer Kleinstadt muss mehr als 30 Kilometer fahren, auf eigene Rechnung, um überhaupt einen dringend benötigten Augenarzt oder einen Urologen aufsuchen zu können. Wie passt das zusammen? Bzw. wie berechtigt ist es, bei mangelnden Arztterminen auf die GKV-Versicherten zu zeigen?

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Die beiden Standpunkte passen schon zusammen, wobei ich die Äußerung von Andreas Gassen scharf kritisiere. Denn die Anspruchshaltung von Patienten resultiert insgesamt aus Bedürfnissen, die subjektiv nicht erfüllt werden. Aber diese Situation ist eine von den Kassenärztlichen Vereinigungen in Kauf genommene, denn sie hat seit vielen Jahren einen gesetzlichen Sicherstellungsauftrag. Wenn im Ergebnis aber in Ballungsgebieten ein Überangebot von Ärzten entsteht, während auf dem Land Ärztemangel herrscht – und diese Entwicklung seit Jahren bekannt ist ohne gegenzusteuern – wurde etwas falsch gemacht. Auch hier muss man zudem die Vergütungsstrukturen für Ärzte hinterfragen.

Über eine nachhaltige Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung wurde leider bisher noch nicht nachgedacht.

Ein weiterer Fehlanreiz: Kassen erhalten mehr Geld aus dem Gesundheitsfonds, wenn sie den Patienten kränker machen. Ihr Kollege Jens Baas ist 2016 mit einem mutigen FAZ-Interview an die Öffentlichkeit gegangen, in dem er auf das Problem von Manipulationen in der Patientenakte aufmerksam machte: zum Beispiel, dass aus einer depressiven Stimmung eine echte Depression werden kann. Hat sich die Situation verbessert? Wie ist Ihre aktuelle Einschätzung?

Möglichkeiten zur Beeinflussung der Kodierung von Krankheiten bestehen noch immer. Nicht zuletzt durch Verträge, die eine besondere Vergütung der Ärzte für eine zielgenaue Kodierung vorsehen. Interessant ist, dass diese Verträge ausschließlich Morbi-RSA-relevante Krankheiten erfassen und nach Abschluss dieser Verträge die betroffenen Krankheiten sprunghaft zugenommen haben. Die Vergütungsanreize, wie derzeit geplant, dennoch nicht zu verbieten, halte ich für einen Fehler.

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Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) will mit dem Faire-Kassenwettbewerb-Gesetz weitere Manipulationen erschweren: zum Beispiel dadurch, dass die viel diskutierte Risikostrukturausgleich Morbi-RSA auf alle Krankheiten ausgeweitet wird und nicht, wie bisher, schwerpunktmäßig 80 Krankheiten mit finanziellen Anreizen „belohnt“. Eine Manipulationsgrenze könnte darüber hinaus dafür sorgen, dass bei auffälligen Diagnosen, etwa einer auffälligen Häufung, gar kein Geld mehr fließt. Aus Ihrer Sicht ein gangbarer Weg, um Fehlanreize abzubauen? Oder werden neue geschaffen?

Aus meiner Sicht sind sämtliche Maßnahmen, die auf die Beendigung der Manipulationen abzielen, richtig. Hoffentlich werden sie dann auch zeitnah umgesetzt. Einzig die darüber hinaus gehende Ausweitung des Morbi-RSA auf alle Krankheiten halte ich für den falschen Weg. Diese Maßnahme erzeugt noch mehr Bürokratie und Aufwand. Und ich kann mir nicht vorstellen, wie dann Manipulationen in der Breite aufgedeckt und geahndet werden sollen. Ein konsequentes Verbot bestimmter Verträge sowie klar definierte Kodier-Richtlinien zusammen mit einer strukturierten Dokumentationspflicht der Ärzte wären hier aus meiner Sicht der bessere Weg gewesen.

Daran anknüpfend: Im PKV-System erhalten die Patient*innen eine Rechnung vom Arzt mit den Kosten und der Diagnose. Warum nicht bei den Krankenkassen? Würde das die Transparenz aus Ihrer Sicht erhöhen?

In der GKV gilt das Sachleistungsprinzip. Von daher lässt sich dies bei den Krankenkassen nicht umsetzen. Bereits heute können gesetzlich Versicherte aber bei einigen Krankenkassen eine elektronische Patientenquittung abrufen, auch bei unserer BKK WIRTSCHAFT & FINANZEN. Künftig wird diese als Teil der elektronischen Patientenakte sogar einheitlich verpflichtend allen gesetzlich Versicherten zur Verfügung stehen. Die Frage aber ist, ob die Versicherten dies überhaupt in Anspruch nehmen wollen. Sicher gibt es auch andere Wege, die Transparenz für Versicherte zu erhöhen, beispielsweise über Eigenanteile. Das wäre aber ein sehr komplexes Thema, das eingehend diskutiert werden müsste.

Aktuell gibt es 105 verschiedene Krankenkassen in Deutschland. Helfen könnte bei einer Kostensenkung, wenn deutlich mehr Kassen fusionieren und wenn die Zahl der Anbieter eingeschrumpft wird. Aus Ihrer Sicht ein gangbarer Weg? Gibt es hier Widerstände?

Diese Ansicht teile ich gar nicht. Der Gesetzgeber hat sich wiederholt für das gegliederte Krankenkassensystem und damit für Kassenvielfalt entschieden.

Obwohl für alle Krankenkassen die gleichen gesetzlichen Regelungen bestehen, hat die Kassenvielfalt mit dem damit verbundenen Wettbewerb in der Vergangenheit dafür gesorgt, dass unterschiedliche Versorgungsformen und medizinischer Fortschritt entstanden sind. Zudem gehören die meisten großen Krankenkassen im Hinblick auf Verwaltungskosten zu den eher teuren Krankenkassen. Selbst, wenn von heute auf morgen nur wenige Krankenkassen bestehen würden, wäre das Einsparpotential in Form von Beitragssatzpunkten kaum messbar.

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Das Interview mit Björn Hansen führte Mirko Wenig

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