Austrittsabkommen: Gefahr des „harten Brexit“ noch nicht gebannt

Freitagnacht verlassen die Britten die Europäische Union (EU). Zuvor noch stimmte – zum Mittwoch dieser Woche – das EU-Parlament dem 585-seitigen Austrittsabkommen zu, auf das sich Verhandlungsführer von EU und Großbritannien im Oktober 2019 einigten. Die Gefahr eines harten Brexit und damit ohne Deal zwischen der EU und Großbritannien ist dadurch zwar noch nicht gebannt, jedoch immerhin bis Ende 2020 aufgeschoben.

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Denn das Austrittsabkommen sieht eine Übergangsfrist bis zum 31. Dezember 2020 vor. Zwar ist Großbritannien während dieser Übergangszeit kein Mitgliedsstaat der EU mehr. Jedoch muss im Vereinigten Königreich weiterhin EU-Recht angewendet werden. Zugleich wird Großbritannien bis Ende des Jahres wie ein EU-Staat behandelt.

Das Austrittsabkommen tritt ab diesen Samstag in Kraft. Die Übergangszeit dient nun für Verhandlungen über ein neues Freihandelsabkommen. Können sich jedoch die EU und Großbritannien bis Ende diesen Jahres nicht einigen, droht noch immer der gefürchtete harte Brexit.

Insbesondere in der Wirtschaft wird eine rechtliche Neuordnung der Beziehungen ohne Deal gefürchtet. So warnt EU-Chefunterhändler Michel Barnier laut Münchener ifo-Institut vor der Gefahr, Großbritannien könne durch laxe Auflagen oder durch sehr niedrige Steuern „unfairen“ Wettbewerb betreiben. Das Vereinigte Königreich hingegen fürchtet seinerseits, überbordende Sozialstandards der EU könnten die wirtschaftliche Dynamik auf der Insel lähmen. Ein Handelskrieg und eine konfliktbeladene Steuerpolitik drohen als Szenarien.

Versicherungswirtschaft befürchtet nun weniger Marktorientierung in der EU

Eigene Sorgen aufgrund des Brexit aber plagt die Versicherungswirtschaft: Mit Klaus Wiener warnt der Chefvolkswirt des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) aktuell anhand einer Presseerklärung vor einem Wegbrechen der Marktorientierung. Denn die Briten gaben der Branche eine wichtige und nun in der EU-Politik fehlende Stimme. Zur Veranschaulichung dieser Gefahr verweist der Ökonom auf eine mildernde Rolle der Briten bei Entwicklung des Aufsichtsregimes Solvency II:

Wäre es doch der "konsequenten Positionierung" der Briten zu verdanken, dass die Orientierung am Markt durch das Regelwerk Solvency II nicht völlig verloren ging. So formuliert Wiener: „In vielen Fragen zum Thema Finanzdienstleitungen waren die Vertreter Großbritanniens wichtige Impulsgeber, immer mit einem Blick für marktwirtschaftliche Lösungen.“

Der Brexit Großbritanniens könnte also aus dieser Perspektive weitere Eingriffe der EU-Politik und im Gegenzug weniger Marktwirtschaft bedeuten. GDV-Geschäftsführer Jörg von Fürs­ten­werth sprach in einer älteren Kolumne sogar von einer „sprichwörtlichen Regulierungswut“ der EU sowie von einer „Ferne der Politik von Menschen und Märkten“.

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Man könnte also pointieren: Die Versicherer befürchten ein nun noch strengeres Aufsichtsregime sowie eine weitere Zunahme dieser "Regulierungswut".

Versicherungskunden können gelassen bleiben

Freilich: Während Versicherer durch den Brexit und den Weggang Großbritanniens aus der EU eine neue Regulierungswelle befürchten, können zumindest Versicherungskunden zunächst gelassen bleiben. In einer weiteren Pressemitteilung klärt der Gesamtverband der Versicherungswirtschaft nämlich über geringe Auswirkungen des Brexit für Versicherungskunden auf: Durch den Brexit ändert sich nur wenig.

Britische Lebensversicherung: EU-Recht hat für viele Anbieter Bestand

Beispiel Lebensversicherung: Britische Lebensversicherungen erfreuten sich in der Vergangenheit auch bei deutschen Kunden einer großen Beliebtheit. So halten nicht wenige deutsche Kundinnen und Kunden Vorsorgeverträge von Anbietern wie Scottish Widows Limited, Standard Life, Clerical Medical oder Royal London. Ein unkontrollierter Brexit ließ durchaus ein reales Bedrohungs-Szenario für Lebensversicherer und Kunden möglich erscheinen: Letztjährig warnte TheCityUK, eine Interessenvertretung britischer Finanzdienstleister, Verträge aus EU-Beständen britischer Lebensversicherer könnten ungültig werden.

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Obwohl in der Folge Entwarnung gegeben wurde – eine Geschäftserlaubnis der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) hätte zum Beispiel ein Weiterbetreiben deutscher Bestände erlaubt – schufen sich die Anbieter selbst Rechtssicherheit. Denn viele Anbieter reagierten auf die drohende Unsicherheit, indem sie Tochtergesellschaften in EU-Ländern gründeten und den gesamten Vertragsbestand aus EU-Ländern auf diese Töchter übertrugen:

So liegen die Verträge von Standard Life oder Royal London nun bei einer Unternehmenstochter in Irland. Die Verträge der Scottish Widows Limited (SWL) liegen in Luxemburg. Für Kundinnen und Kunden innerhalb der EU bleibt EU-Recht dadurch weiterhin gültig. Ebenso bleiben individuelle Vertragsbedingungen eines jeden Kunden unangetastet (der Versicherungsbote berichtete).

Trotz geringerem Insolvenzschutz: Kein Grund zur Eile

Einen beunruhigenden Knackpunkt freilich wollten die Verbraucherschützer von „test.de" erkannt haben. Denn in Großbritannien wurde mit dem Financial Services Compensation Scheme (FSCS) ein Fond eingerichtet, der Lebensversicherer vor Pleiten bewahren soll und vergleichbar ist mit dem seit 2002 in Deutschland existierenden „Protektor“-Fond. Weder in Luxemburg noch in Irland gibt es jedoch ein vergleichbares Entschädigungssystem. Deswegen würde durch Übertragung der Verträge der Insolvenzschutz leiden.

Allerdings: Die Finanzlage der britischen Lebensversicherer wurde zugleich als stabil bewertet, weswegen die Verbraucherschützer von einer überstürzten Kündigung der Verträge abrieten. Bestünde doch „kein dringender, kurzfristiger Handlungsbedarf“. Deswegen könne man nun verschiedene Möglichkeiten zwischen einer Kündigung und einer Fortführung des Vertrags prüfen.

Weitere Möglichkeiten wurden genannt – denkbar wäre zum Beispiel auch eine Kapitalzahlung, ein Verkürzen des Vertrags, ein Beitragsfrei-Stellen des Vertrags oder gar ein Verkauf des Vertrags an Zweitmarkt-Anbieter, die Lebensversicherungen aufkaufen. Zum Prüfen solcher Möglichkeiten empfahlen die Verbraucherschützer ein professionelles Beratungsgespräch. Grund zur überstürzten Eile besteht aber nicht.

Kfz-Versicherung: Ab 1. Januar 2021 eventuell „Grüne Karte“ erforderlich

Auch für die Kfz-Versicherung ändert sich aufgrund der ausgehandelten Übergangsfrist des Austrittsabkommens bis zum 31. Dezember 2020 zunächst nichts. Und auch für die Kfz-Versicherung gilt: Erwartete Veränderungen liefern keinen Grund zur Panik. Denn laut Presseerklärung des GDV gilt weiterhin der Schutz einer Kfz-Versicherung in Großbritannien ohne Einschränkungen.

Einziger möglicher Wermutstropfen: Ab 01. Januar 2021 könnte es Pflicht sein, bei Einreise nach Großbritannien die Internationale Versicherungskarte für den Kraftverkehr – auch „Grüne Karte“ genannt – mitzuführen. Diese Karte bescheinigt in Nicht-EU- Ländern den Einreisenden einen Versicherungsschutz in der Haftpflichtversicherung gemäß den Bestimmungen des jeweiligen Gastlandes. Auch Daten über Fahrzeug, Halter und dessen Versicherung sind auf der Karte verzeichnet. Erhältlich ist die Grüne Karte kostenlos beim Kfz-Haftpflichtversicherer.

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Bedingungen weiterer Versicherungsprodukte bleiben gleich

Ob aber zukünftig tatsächlich die Grüne Karte bei Einreise nach Großbritannien mitzuführen ist, ist nach jetzigem Stand noch nicht sicher. Sicher hingegen ist laut Erklärung der Versicherer: Für Reise-, Haftpflicht- und private Unfallversicherungen hat der Brexit überhaupt keine Konsequenzen – ihr Schutz gelte in aller Regel weltweit. So gesehen ist der Brexit zumindest für Versicherungskunden kein Grund zur Unruhe – viele Bedingungen verschiedener Versicherungen und Produkte bleiben gleich. Außerdem hilft die Übergangsfrist bis zum 31. Dezember 2020 den Kunden, sich ohne Zeitdruck zu entscheiden – und gegebenenfalls beraten zu lassen.

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