Versicherungsbote: Mit dem Insurtech-Boom der letzten Jahre wuchs nicht nur die Zahl der Unternehmen, sondern auch der Wettbewerb. Welche InsurTechs konnten sich auch im letzten Jahr erfolgreich behaupten und welche Voraussetzungen bringen diese mit?

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Dr. Nikolai Dördrechter: Seit 2000 gab es 183 Gründungen von InsurTechs in Deutschland. Von diesen haben mittlerweile 49 aufgegeben oder haben dem Versicherungsmarkt den Rücken zugekehrt. Allein das zeigt, dass es hier keine Erfolgsgarantie gibt. Wir haben mit der aktuellen Ausgabe des InsurTech-Radars 20 Scale-ups identifiziert, deren Geschäftsmodelle überdurchschnittlich stark wachsen. Diese InsurTechs konnten sich vom restlichen Feld absetzen, weil sie Kooperationen mit Versicherern, Vertriebsorganisationen und zunehmend auch anderen InsurTechs eingehen.

Elf Scale-ups richten ihr Geschäftsmodell auf das Angebot von Versicherungen aus, vertreiben als Neocarrier eigene Produkte. Andere fokussieren sich auf digitale Vertriebsplattformen, die aus unserer Sicht auf dem Weg zur Systemrelevanz sind. Aber: Die Entwicklung bleibt dynamisch. Wir rechnen damit, dass neue InsurTechs zu Scale-ups werden – und dass manch ein Scale-up auch noch nicht über den Berg ist.

Der Wettbewerb fordert zunehmend Opfer unter den InsurTechs. Seit 2017 häufen sich Geschäftsaufgaben. Der InsurTech-Radar kennt zudem „Zombies“, die zwar formal noch existieren, denen Sie aber keine Zukunftschancen einräumen. Welche InsurTechs sind besonders von Misserfolg betroffen und wodurch begründen sich deren fehlende Erfolgsaussichten?

Dr. Nikolai Dördrechter ist InsurTech-Experte und Mitautor des InsurTech-Radars.Dr. Nikolai Dördrechter: Zunächst einmal ist die Auslese Zeichen der zunehmenden Reife des Marktes und lässt sich in ähnlicher Form in anderen Industrien gleichermaßen beobachten. Wir hatten für den InsurTech-Markt in Deutschland bereits in 2017 prognostiziert, dass sich die Spreu vom Weizen trennen wird und dass das rasante Wachstum bei der Anzahl der InsurTechs nicht ewig so weitergehen wird. So zeigt sich der Reifeprozess auch daran, dass sich im vergangenen Jahr die Gründungen und Austritte die Waage hielten. Unter den „Zombies“, die quasi formal nur noch auf dem Papier existieren, sind auch einige mit hohen Investitionen, deren Abschreibung durchaus schmerzhaft sein könnte – auch für Versicherer, die investiert sind.

Betroffen sind vor allem Modelle, die im Ringen um Neukunden von den extrem hohen Marketing- und Vertriebsaufwendungen zerrieben wurden. Es gibt dann zwar einen Kundenstamm, der reicht aber nicht aus, um die Fixkosten zu decken. Die Fixkosten kann man bis zu einem gewissen Punkt runterfahren. Dann aber fehlen den Start-ups die Möglichkeiten, auf der Vertriebsseite echte Erfolge zu generieren. Einige Modelle haben sich auch Nischen ausgesucht, die wirtschaftlich einfach nicht genug Potenzial für ein Stand-alone-Geschäftsmodell mit sich bringen. Oder haben schlichtweg an den Kundenbedürfnissen vorbei entwickelt.

Mittlerweile kooperieren viele Versicherer mit den jungen Marktteilnehmern oder haben sich sogar direkt an ihnen beteiligt. Welche Entwicklung erwarten sie für die Zukunft?

Simon Nörtersheuser: Aus Gründersicht dauern Annäherungsprozesse aktuell immer noch viel zu lange und sind oft mit einem asymmetrischen Know-how-Transfer an die Versicherer verbunden. Die Start-ups müssen das in Kauf nehmen, um die wichtigen Kooperationen mit Versicherern oder Rückversicherern eingehen zu können. Versicherer haben aber auch erkannt, dass mehr und mehr InsurTechs an den richtigen Themen arbeiten und immer bessere Lösungen vorweisen können.

Simon Nörtersheuser ist Gründer und Geschäftsführer der Policen Direkt Gruppe.

Die Digitalisierung der Versicherungsbranche ist das Kernthema überhaupt. Für Versicherer ist die Investition in ein InsurTech durchaus ein guter Weg, sich Zugang zu bestimmten Technologien zu verschaffen. Insofern erwarte ich, dass die Investitionen weiter zunehmen werden. Die Investitionen werden aber mehr und mehr auf bestimmte Schlüsselthemen konzentriert werden. Fehlinvestitionen sind natürlich nicht ausgeschlossen, allerdings scheitert bei großen Versicherern auch manch eine Softwareeinführung spektakulär. Die Investitionen in InsurTechs sind verglichen damit sehr viel moderater.

Sie schreiben: Versicherer müssten den Vertrieb neu erfinden, InsurTechs helfen dabei. Welche Veränderungen beim Vertrieb erwarten Sie dadurch?

Simon Nörtersheuser: Tatsächlich neue Produkte im Sinne einer Produktinnovation sehen wir aktuell auch auf InsurTech-Seite vergleichsweise wenig. Innovationen beschränken sich auf Prozesse – das ist einerseits gut und richtig. Andererseits erschließt das nicht das gesamte Potenzial. Wenn wir davon sprechen, den Vertrieb neu zu erfinden, geht es darum, Versicherungen davon zu befreien, aktiv verkauft werden zu müssen, indem diese direkt am Point-of-Demand angeboten werden.

Es bräuchte Angebote, bei denen Kunden einen direkten Mehrwert verspüren, bei denen die Versicherung zum Beispiel als ein Baustein in den Hintergrund tritt, der sozusagen automatisch mitvertrieben wird. Derartige Geschäftsmodelle sind allenfalls in Ansätzen zu erkennen – im Bereich Smart Home beispielsweise oder im Bereich Bancassurance, in die wir große Erwartungen setzen. InsurTechs werden hier durch Ihre hohe Flexibilität und Innovationskraft in Zukunft vermehrt aktiv werden.

Betrachtet man die drei wichtigsten Segmente „Angebot“, „Betrieb“ und „Vertrieb“, erweist sich der Bereich „Vertrieb“ als Verlierer bei der Anzahl der InsurTechs. 2016 waren noch fast zwei Drittel aller InsurTechs in diesem Bereich zuhause, in 2018 hingegen nur noch 33 Prozent. Was sind die Gründe für dieses veränderte Verhältnis?

Dr. Nikolai Dördrechter: Was wir hier beobachten, ist in erster Linie der langsame Abbau einer Schieflage, so wie wir ihn auch in anderen InsurTech-Märkten international verzeichnen konnten. In unserer ersten Studie 2016 waren sehr viele vertriebliche Geschäftsmodelle vertreten, die sich an Erfolgsmuster aus dem E-Commerce anlehnten. Die Dynamik bei diesen Modellen hat deutlich abgenommen, man kann von einer Stagnation sprechen.

Neuer Unternehmergeist fand sich jetzt erfreulicherweise in Bereichen, die mehr Wissen über Versicherungen voraussetzen. So haben die Bereiche „Angebot“ und „Betrieb“ deutlich zugelegt, auch, weil mehr und mehr erfahrene Versicherungsmanager den Sprung ins Wagnis Start-up gewagt haben. Die Wachstumsstory dieser Bereiche ist somit davon getrieben, dass Gründerteams zusammenfinden, die zweierlei mitbringen: tiefes Versicherungswissen und Technologie-Know-how. Die von uns angekündigte zweite InsurTech-Welle baut sich so langsam auf, während die erste ausläuft.

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Die größte Gefahr für die Vermittlerschaft ist es, sich nicht aktiv mit dem Thema Digitalisierung auseinanderzusetzen

Sie gehen davon aus, dass Vertriebsplattformen zunehmend an Marktmacht gewinnen werden und auf dem Weg zur Systemrelevanz seien. Auch sehen Sie eine latente Oligopolisierung des Marktes. Wie verändern sich Bedingungen durch diese Entwicklung? Müssen Vermittler eine solche Marktmacht fürchten?

Simon Nörtersheuser: Vertriebsplattformen bringen unterschiedliche Akteure im Vertriebsprozess zusammen und müssen nicht unbedingt auf Endkunden ausgerichtet sein. Deswegen sind Sie in der Regel keine Gefahr für Makler, im Gegenteil: sie erleichtern ihnen die Arbeit, ohne dass die auf ihre Unabhängigkeit verzichten müssen. Digitale Vertriebsplattformen setzen hier an und sind auf einem sehr guten Weg. Das führt im Erfolgsfall auch immer zu einer Bündelung von Marktmacht.

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Die InsurTechs mit diesem Geschäftsmodell sind aber nicht alleine und konkurrieren mit etablierten Anbietern von Maklersoftware. Wer am Ende die Nase vorne haben wird, ist aktuell noch nicht abzusehen. Eine Konsolidierung im Maklermarkt schreitet allerdings ohnehin voran. Vor allem Einzelmakler suchen angesichts der Herausforderungen der Digitalisierung und zunehmender regulatorischer Vorschriften starke Kooperationen. Auf zahlreiche Anfragen aus unserem Netzwerk haben wir so unlängst reagiert und die Maklerpartnerschaft ins Leben gerufen. So muss kein Makler die technischen, juristischen und bürokratischen Herausforderungen fürchten und kann sich ganz auf sein Kerngeschäft, die unabhängige Beratung des Kunden, konzentrieren und das sogar noch ausbauen.

In welchen Bereichen ist die Gefahr für die Vermittlerschaft am größten, dass digitale Absatzkanäle der Insurtechs in Konkurrenz zu herkömmlichen Vertriebswegen treten?

Dr. Nikolai Dördrechter: Die mit Abstand größte Gefahr für die Vermittlerschaft ist es, sich nicht aktiv mit dem Thema Digitalisierung auseinanderzusetzen und zu wenig Geld für Investitionen in Technologie in die Hand zu nehmen. Viele Makler haben – wenn überhaupt - nur leidlich gepflegte Maklerverwaltungsprogramme, eine veraltete IT-Infrastruktur und damit einhergehend stark „papierlastige“ Prozesse. So aufgestellte Makler und Vermittler werden es zukünftig immer schwerer haben, für ihre jüngeren Kunden attraktiv zu bleiben. Zudem gehen ihnen wertvolle vertriebliche Chancen durch die Lappen, die unsichtbar im Bestand schlummern.

InsurTechs sehe ich hier in erster Linie als Lösungsanbieter und nicht primär als Konkurrenz. Ein Großteil der InsurTechs, die ursprünglich mal als reiner Online-Makler im Privat- oder Gewerbekundengeschäft aufgetreten sind, haben sich zu Technologieanbietern weiterentwickelt, die sich als Partner der etablierten Vertriebskanäle sehen. Auf der anderen Seite sehen wir aber durchaus ernstzunehmende Konkurrenz für die etablierten Vermittler durch digitale-B2C--Makler, die große Vertriebspartnerschaften z.B. mit Banken eingegangen sind. Diesen stehen, nicht zuletzt gestärkt durch massive Finanzierungsrunden, ganz andere Wachstumsmöglichkeiten offen, als einem traditionell aufgestellten Vermittler oder Makler.

In welchen Bereichen könnten Vermittler aus Ihrer Sicht von der aktuellen Entwicklung profitieren?

Simon Nörtersheuser: Nur 14 von 134 InsurTech sind überhaupt vertrieblich im Endkundengeschäft tätig. Damit sind fast 90 Prozent der Versicherungs-Start-ups keine direkten Gegner der klassischen Vermittlerschaft. Im Gegenteil: Gerade wer als Einzelmakler die Herausforderungen der Digitalisierung bewältigen und gleichzeitig mit den schärferen Regulierungsvorschriften klarkommen will, sucht sich Unterstützung. InsurTechs bieten hier mitunter Lösungen, die etwa bei der Optimierung der Organisation helfen oder das Beratungsgespräch beim Kunden digital unterstützen.

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Dennoch ist die Maklerschaft weitgehend skeptisch: Laut aktueller Umfragen begegnen mehr als 75 Prozent den „Neuen“ mit Zurückhaltung. Wer aber auch in Zukunft erfolgreich vermitteln will, wirft entweder selbst einen genaueren Blick auf die InsurTech-Szene oder sucht sich starke Partner, die die Angebote längst nutzen. Denn gerade für die Bereiche, die den Kunden im persönlichen Kontakt mit dem Vermittler am wichtigsten sind – Beratung und Bedarfsanalyse, Vertragsanpassungen, Hilfe im Schadenfall, Kombinationsmöglichkeiten verschiedener Tarife und Details der Versicherungsbedingungen – , bieten auch InsurTechs sinnvolle und kostengünstige Unterstützung an.

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