Versicherungsbote: Wie bewerten Sie die aktuelle Bedrohung durch Altersarmut in Deutschland? Müssen die Bundesbürger Altersarmut fürchten — und was kann dagegen getan werden?

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Ralf Kapschack: Es ist richtig, dass die Zahl derjenigen, die durch Altersarmut betroffen sind, steigt. Bemisst man Altersarmut allein am Bezug von Sozialleistungen – also Grundsicherung im Alter –, so liegt der Prozentsatz der von Altersarmut betroffenen Menschen bei 1,55 Prozent (bundesweit 1.078.521 Personen, die Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung beziehen).

Aus meiner Sicht ist das allein nur ein unzureichender Hinweis auf die tatsächliche Dimension von Altersarmut. Es gibt eine sehr hohe Dunkelziffer von Menschen, die Anspruch auf eine Leistung haben, diese aber beispielsweise aufgrund von Scham, Unwissenheit oder Sorge auf Rückgriff auf Einkommen und Vermögen der Kinder nicht in Anspruch nehmen. Die Grundsicherung deckt lediglich das Existenzminimum. Armut beginnt aber deutlich früher. Armut ist relativ.

Die Rente ist das Spiegelbild des Erwerbslebens. Deshalb sind gute Arbeit, gute Löhne und eine hohe Tarifbindung die Grundvoraussetzung für eine gute Rente. Mit der Stabilisierung des Rentenniveaus und des Beitragssatzes sind wir außerdem einen ersten wichtigen Schritt zur Stärkung der gesetzlichen Rente gegangen. Denn sie steht für uns im Mittelpunkt. Jedoch kann nicht mehr jede und jeder etwas am Arbeitsleben ändern und so für eine gute Rente sparen. Die Erwerbsbiografien werden immer brüchiger (Teilzeitarbeit, längere Erwerbsunterbrechungen, Befristungen, häufige Jobwechsel etc.).

Mit der Grundrente, über die derzeit in der Regierung noch heftig gestritten wird, werden wir ebenfalls einen Grundstein für eine bessere Rente legen. Sie sorgt dafür, dass Menschen, die jahrzehntelang gearbeitet, Angehörige gepflegt oder Kinder erzogen haben, eine Rente oberhalb der Grundsicherung erhalten. Und das wichtigste daran: Sie erhalten eine RENTE. Ihnen wird der Gang zum Amt erspart.

Nach pessimistischen Schätzungen wird in der gesetzlichen Rentenversicherung schon Mitte dieses Jahrhunderts ein Arbeitnehmer fast alleine für einen Rentner aufkommen müssen. Wie sattelfest ist aus Ihrer Sicht die umlagefinanzierte Rente?

Die Deutsche Rentenversicherung zählt zu den ältesten Sozialversicherungen überhaupt. Bisher gab es nur einen Tag, an dem die Rente verspätet gezahlt wurde, das war im Mai 1945. Sie hat auch die Finanzkrisen überstanden und damit gezeigt, dass sie besser als ihr Ruf ist.

Wenngleich das Verhältnis von BeitragszahlerInnen und RentnerInnen immer geringer wird, sagt das nicht sehr viel aus. Denn entscheidend ist, wie sich die Produktivität der aktuell und zukünftig Beschäftigten entwickelt.

Es ist aber richtig, dass wir etwas tun müssen, wenn wir weiterhin eine gute gesetzliche Rente wollen. Das ist in meinen Augen eine Frage der Prioritätensetzung. Für die SPD ist klar: Die gesetzliche Rente steht im Mittelpunkt und muss weiter gestärkt werden. Ein weiterer wichtiger Schritt dafür wäre die Erwerbstätigenversicherung [Die Einbeziehung aller Erwerbstätigen in die Rentenversicherung: auch z.B. Minijobber, Selbstständige und Beamte, Anmerk. Redaktion].

Sollte die gesetzliche Rente zukünftig gestärkt werden, etwa durch Anhebung des Rentenniveaus oder mehr Einzahler? Beispiel Österreich: Hier zahlen auch Selbstständige und Beamte in die Rentenkasse, der Beitrag ist höher. Aber im Schnitt erhalten Altersruheständler über 300 Euro mehr Rente im Monat. Auch für Deutschland ein denkbares Modell?

Absolut. Eine Erwerbstätigenversicherung wie in Österreich ist für Deutschland wünschenswert. Zur Wahrheit gehört aber auch dazu, dass der Beitragssatz in Österreich deutlich höher liegt als bei uns. Außerdem gibt es in Österreich „lediglich“ einen Inflationsausgleich bei den jährlichen Rentenanpassungen. Das wiederum auf einem höheren Niveau als bei uns.

Darüber hinaus werden in Österreich erst nach 15 Versicherungsjahren Renten gezahlt, in Deutschland nach fünf. Das zeigt, das österreichische System ist nicht eins zu eins übertragbar – aber es hat eine Menge Vorteile, vor allem, weil alle grundsätzlich in einer Rentenversicherung sind.

Im Herbst dieses Jahres werden wir mit der Einbeziehung von Selbständigen in die gesetzliche Rentenversicherung beginnen. Wenn es nach mir geht, beziehen wir die Abgeordneten gleich mit ein. Das hat vor allem etwas mit Gerechtigkeit und Solidarität zu tun. Die Parlamentarische Linke in der SPD-Bundestagsfraktion hatte das bereits in der vergangenen Wahlperiode gefordert. Damit sollten wir endlich beginnen.

Die Stabilisierung des Rentenniveaus ist aus meiner Sicht auch ein absolut richtiger Schritt gewesen, um das Vertrauen in die gesetzliche Rente und damit in den Sozialstaat zu stärken.

Die OECD plädiert dafür, das Renteneintrittsalter an die steigende Lebenserwartung der Bundesbürger zu koppeln: auch, weil die Gesellschaft altert. Werden wir künftig länger arbeiten müssen, damit die Rente finanzierbar bleibt?

Bevor wir wieder über die Anhebung des Renteneintrittsalters diskutieren, müssen wir dafür sorgen, dass alle Menschen gesund das aktuelle Renteneintrittsalter erreichen können. Denn das ist vielen Menschen in Deutschland derzeit nicht möglich. Erwerbsminderung ist leider nach wie vor eines der größten Armutsrisiken. Von mir aus kann man gern über zusätzliche Anreize nachdenken, um längeres Arbeiten für diejenigen, die wollen und können, attraktiver zu machen. Eine ausreichende Absicherung im Alter darf davon aber nicht abhängen.

Aktuell wird eine Altersvorsorgepflicht für Selbstständige diskutiert, weil speziell sogenannte Soloselbstständige mit kleinem Einkommen oft darauf verzichten, aber später Anspruch auf Grundsicherung haben. Wie positionieren Sie sich zu dieser Pflicht — wie könnte diese gestaltet sein?

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Die Altersvorsorgepflicht für Selbstständige ist längst überfällig und daher absolut begrüßenswert. Im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart, dass „wir eine gründerfreundlich ausgestaltete Altersvorsorgepflicht für alle Selbstständigen einführen [wollen], die nicht bereits anderweitig obligatorisch (zum Beispiel in berufsständischen Versorgungswerken) abgesichert sind. Grundsätzlich sollen Selbstständige zwischen der gesetzlichen Rentenversicherung und – als Opt-out-Lösung – anderen geeigneten insolvenzsicheren Vorsorgearten wählen können. Wobei diese insolvenz- und pfändungssicher sein und in der Regel zu einer Rente oberhalb des Grundsicherungsniveaus führen müssen.“ Insbesondere der letzte Teil wird in der Umsetzung nicht ganz unkompliziert. Da hätte ich mir eine klarere Regelung – ohne Ausnahmen – gewünscht, nämlich die Einbeziehung in die gesetzliche Rentenversicherung.

...das Vertrauen in Riester ist ramponiert

Versicherungsbote: Neben der gesetzlichen und betrieblichen Rente sollen die Menschen auch privat vorsorgen: unter anderem staatlich gefördert mit der Riester-Rente. Muss Riester reformiert oder gar abgeschafft werden? Oder funktioniert das aktuelle Modell? Über 16,56 Millionen Menschen hatten zum Ende des dritten Quartals einen Riester-Vertrag abgeschlossen. Aber das Neugeschäft stagniert, jeder fünfte Vertrag liegt nach Schätzungen des Bundesarbeitsministeriums auf Eis.

Ralf Kapschack: Jeder, der kann, sollte zusätzlich für das Alter vorsorgen. Für uns ist jedoch die betriebliche Altersversorgung die beste Ergänzung zur gesetzlichen Rente, allerdings kein Ersatz!

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Ich glaube, dass die private Altersvorsorge nur über ein staatlich bzw. öffentlich-rechtliches Standard-Produkt wieder an Schwung gewinnt. Die Versicherungswirtschaft befürchtet das und kommt jetzt allmählich mit eigenen Vorschlägen. Vielleicht etwas spät.

Das Vertrauen in Riester ist ramponiert, nicht zuletzt wegen der hohen Kosten, Provision und der Unübersichtlichkeit der Produkte. Aber auch wegen der Kapitalmarktentwicklung.

Wie positionieren Sie sich zu der Idee, einen Kapitalstock bei der Deutschen Rentenversicherung aufzubauen, ähnlich dem schwedischen Staatsfonds? Dort zahlen die Bürger 2,5 Prozent ihres Gehalts in bis zu fünf Fonds ein, über 800 stehen zu Auswahl. Sie müssen Nachhaltigkeitskriterien erfüllen. Die Verwaltungskosten: 0,1 Prozent. Ein Modell auch für Deutschland?

Ich halte diese Idee für sehr interessant. Es gab ja in den vergangenen Monaten neue Vorschläge in eine ähnliche Richtung, zum Beispiel von den Verbraucherzentralen und anderen. Die Deutsche Rentenversicherung steht für Kontinuität und ist bekannt. Hier zusätzlich anzusetzen und eine Art Standardprodukt, das einfach, transparent und kostengünstig ist, anzubieten, finde ich genau richtig.

Das könnte ein Angebot für private Vorsorge sein, aber auch eins für betriebliche Vorsorge, in Branchen und Betrieben, die keine anderen tarifvertraglichen Regelungen hinbekommen.

Dank Niedrigzins-Politik werden viele populäre Geldanlagen der Deutschen vakant: Lebens- und Rentenversicherungen rentieren sich immer seltener. Müssen die Bürger umlernen und ihr Geld in andere Vorsorgeformen stecken?

Diese langanhaltende Niedrigzinsphase zeigt deutlich, dass eine rein kapitalgedeckte Altersversorgung nicht sinnvoll und durchaus aus schwierig ist. Die gesetzliche Rente bietet eine Rendite von derzeit 3 Prozent. Wo bekommt man das sonst noch?

Wir können jedoch an verschiedenen Stellschrauben drehen. Ich denke da z.B. an starke Betriebsrenten, an denen sich die Arbeitgeber beteiligen, Förderinstrumente und ein Standardprodukt für die private Vorsorge.

Wird der Niedrigzins aus Ihrer Sicht in den kommenden Jahren anhalten — und mit welchen Konsequenzen für deutsche Sparer?

Das kann wahrscheinlich keiner seriös sagen. Es spricht aber wenig dafür, dass sich die Zinsentwicklung schnell ändert.

Wichtig ist es, dass die Sparerinnen und Sparer langfristig anlegen, wenn möglich sich nicht auf eine Vorsorgeform konzentrieren und auch ein Stück weit akzeptieren, dass sich Rahmenbedingungen ändern, die wir heute für die Zeit in 40 Jahren noch nicht voraussehen können.

Unser Wohlfahrtssystem beruht auf der Idee, dass Wirtschaftswachstum zu mehr Wohlstand führt: dies wird auch wirtschaftspolitisch angestrebt. Nicht erst seit den „Fridays for Future“-Demonstrationen gibt es Bedenken, ob das Wachstumsideal dem Menschen auch schadet: es bedroht die Umwelt, führt zu Stress und Burnout etc. Gibt es eine Alternative zu einer Wirtschaft, die Wachstum anpeilt — wie könnte sie aussehen?

Es sollte dabei vor allem um die Frage gehen, welche Bereiche wachsen und wie wir einen vernünftigen Ausgleich hinbekommen zwischen den Anforderungen an Mobilität, Energie, Wohnen, Arbeiten und dem Schutz von Umwelt und Natur. Und nicht zuletzt geht es darum, wie der Wohlstand gerechter verteilt wird. Das wäre beispielsweise durch eine höhere Besteuerung von Reichtum möglich und mehr Investitionen in die Infrastruktur, die allen zu Gute kommen.

Die Digitalisierung bedroht Arbeitsplätze, gerade einfache Tätigkeiten könnten wegfallen. Zugleich böte sie die Chance, Arbeit neu zu organisieren: zum Beispiel durch kürzere Arbeitszeiten. Eine Prognose: Wie arbeiten wir in 30 Jahren?

Wir arbeiten in 30 Jahren vermutlich kürzer, ortsunabhängiger, aber trotzdem hoffentlich mit klaren rechtlichen Schutzregelungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, um einer Entgrenzung von Arbeit und Freizeit entgegenzuwirken. Lebenslanges Lernen gehört zur Normalität.

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Die Fragen stellte Mirko Wenig

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