“Nie mehr mit Schnupfen zum Arzt schleppen: Mit unserem Arzt-Video-Call erhältst du Diagnosen, Rezepte und Krankschreibungen einfach und schnell über die App.“ So wirbt der digitale Krankenversicherer Ottonova auf seiner Webseite um neue Kundinnen und Kunden. Immer noch, denn rein theoretisch darf der Versicherer das nicht mehr. Nach einem Urteil des Landgerichtes München muss es der Krankenversicherer künftig unterlassen, "für ärztliche Fernbehandlung in Form eines digitalen Arztbesuchs zu werben“. Zuerst hat boerse-online.de über das Urteil berichtet, rechtskräftig ist das Urteil noch nicht (Az. 33 O 4026/18).

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Kooperationspartner aus der Schweiz

Der Münchener Digitalversicherer, überhaupt erst seit 2017 auf dem Markt, kooperiert für den digitalen Service mit einem Schweizer Ärztenetzwerk: Eedoctors. Ohne Frage ein seriöser Anbieter, denn in Sachen Telemedizin sind die Eidgenossen schon weiter als die Deutschen. In der Schweiz ist es den Ärzten erlaubt, vereinzelt Krankschreibungen und Rezepte auszustellen - ohne, dass der Patient persönlich vorstellig wurde.

25 erfahrene Allgemeinmediziner und Notfallärzte beraten die Patienten bei Eedoctors, oft mit jahrelanger Berufserfahrung. "Unsere Patienten sitzen ihrem Arzt live gegenüber. Der Arzt sieht sie – sie sehen den Arzt. Das ermöglicht präzise und schnelle Behandlungen – zuhause oder unterwegs", schreibt der Konzern auf der hauseigenen Webseite.

Die Schweizer werben damit, die „erste virtuelle Arztpraxis für das Smartphone“ zu sein, und gingen im Mai 2016 an den Start. Firmengründer ist Pascal Fraenkler, ein 50jähriger Gesundheitsökonom, der zuvor bereits als Führungskraft in Kliniken tätig war und die Patienten-Informationsplattform Eesom gründete, die größte ihrer Art in der Schweiz. Bei Eedoctors können sich Patienten täglich von 8 bis 21 Uhr mit einem Allgemein- oder Facharzt verbinden lassen, um bei Beschwerden eine Erstkonsultation einzuholen. Und doch ist der Anbieter nicht einmal der Branchenprimus. Bereits seit 1999 ist das Basler Unternehmen Medgate auf dem Markt, das über 100 Ärzte beschäftigt - und zu den Marktführern der Telemedizin in Europa zählt.

Grundsatzstreit — Was ist erlaubt?

Geklagt gegen den Versicherer hatte die Wettbewerbszentrale im März 2018. Dabei geht es um die Grundsatzfrage, was den Ärztinnen und Ärzten in Sachen Fernbehandlung in Deutschland erlaubt ist. Nach Ansicht von Christiane Köber, Geschäftsführerin der Wettbewerbszentrale, seien Krankheitsschreibungen per App per se ungesetzlich. Dies sei aber nicht Thema des Urteils gewesen, sondern, ob man mit Fernbehandlungen online werben dürfe. Eine schriftliche Begründung des Urteils liegt aktuell noch nicht vor.

Entsprechend machte die Behörde einen Verstoß gegen das Heilmittelwerbegesetz (HWG) geltend. In Paragraph 9 heißt es dort: „Unzulässig ist eine Werbung für die Erkennung oder Behandlung von Krankheiten, Leiden, Körperschäden oder krankhaften Beschwerden, die nicht auf eigener Wahrnehmung an dem zu behandelnden Menschen oder Tier beruht (Fernbehandlung)“. Durch diesen Rechtsbruch des Versicherers würde Wettbewerbern ein Nachteil entstehen, so argumentierte die Zentrale weiterhin mit Bezug auf das „Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb“ (§ 3a UWG).

Doch der Versicherer will weiterhin mit Online-Behandlungen werben: und wird sehr wahrscheinlich in Berufung gehen. „Ottonova hat das Urteil des Landgerichts zur Kenntnis genommen, dass es uns künftig untersagt ist, Fernbehandlung von im Ausland sitzenden Ärzten zu bewerben“, teilt eine Sprecherin dem Versicherungsboten mit. „Das Unternehmen wartet nun die Urteilsbegründung ab und wird dann prüfen, ob hiergegen Rechtsmittel eingelegt wird. Erstmal wird sich für Ottonova nichts ändern.“

Es gibt gute Argumente für Fernbehandlungen

Beim aktuellen Urteil stellt sich die Frage, ob Ottonova tatsächlich dreist Wettbewerbsrecht bricht — oder nicht doch auch Vorreiter ist. Denn es gibt durchaus gute Gründe für Fernbehandlungen. Beispiel Versorgungsnotstand auf dem Lande: Wenn in ländlichen Regionen Ärzte fehlen, kann man den Bedarf zumindest abfedern, wenn Diagnosen per App und Videokonsultation den Besuch in der Praxis ergänzen.

Weitere Gründe dafür: Bei ansteckenden Krankheiten wie grippalen Infekten besteht kein Ansteckungsrisiko für andere Praxisbesucher, wenn sich der Patient per App zuschalten lässt und nicht persönlich vorbeischauen muss. Auch Notfallzentren lassen sich entlasten, wenn an Feiertagen und Wochenenden weniger Patientinnen und Patienten mit vermeintlichen Zipperlein in die Notaufnahmen strömen — Der Service der Schweizer Ärzte steht sieben Tage pro Woche zur Verfügung.

Entsprechend hat der 121. Ärztetag im Mai 2018 in Erfurt auch das Fernbehandlungsverbot gelockert, wie die Ärztezeitung berichtet: und zwar bei der Abstimmung mit überwältigender Mehrheit der Delegierten. Die neue Regelung in der Musterberufsordnung der Ärzte (MBO-Ä) sieht künftig in Paragraf 7 Abs. 4 vor, dass Ärzte "im Einzelfall" auch bei ihnen unbekannten Patienten eine ausschließliche Beratung oder Behandlung über Kommunikationsmedien vornehmen dürfen. Sofern dies "ärztlich vertretbar ist und die erforderliche ärztliche Sorgfalt" gewahrt bleibt.

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Die Politik betrachtet die Telemedizin mit Wohlwollen. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) schrieb nach der Lockerung des Fernbehandlungs-Verbotes eine Glückwunschs-SMS an Ärztepräsident Ulrich Montgomery: Die Bundesregierung hatte im schwarz-roten Koalitionsvertrag vereinbart, eine Lockerung zu prüfen. Spahn, in Sachen Digitaltechnik durchaus aufgeschlossen, hatte sich persönlich für mehr Freiheiten ausgesprochen. Auch die Versicherungsbranche hat die Chancen der Telemedizin erkannt. Medi24, ebenfalls ein Schweizer Online-Anbieter, gehört zum Beispiel der Allianz-Gruppe.

...und es gibt gute Argumente dagegen

Sogar die oberste Wettbewerbshüterin Christiane Körber, ja eigentlich Klägerin gegen Ottonova, zeigt Verständnis für das Geschäftsmodell. Und verweist darauf, dass sich gerade Fintechs und Start-ups mit ihrem Wirken oft an die Grenzen der etablierten Rechtsprechung begeben müssen:

„Auf innovative Geschäftsmodelle scheint die eine oder andere Vorschrift nicht richtig zu passen. Wie so oft hinkt die Rechtsentwicklung der Lebenswirklichkeit hinterher. Unternehmer aus der Gesundheitsbranche brauchen aber mehr Rechtssicherheit, und dazu wollen wir mit Musterprozessen beitragen“, sagte Körber im Juni 2018, als die Wettbewerbszentrale erstmals über die Klage auf ihrer Webseite berichtete.

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Frage nach Qualitätsstandards - und Defizite der Diagnose

Aber es gibt auch Gründe, weshalb die Fernbehandlung eben doch eine heikle Sache sein kann: und ihr Grenzen gesetzt werden müssen. So ist es zum Beispiel fraglich, wie ein Fernbehandler den Pflichten nach dem Infektionsschutzgesetz nachkommen und meldepflichtige Krankheiten erkennen soll, schreibt die Wettbewerbszentrale. Zudem ist dauernde ärztliche Tätigkeit in Deutschland an die Niederlassung, also an einen Praxissitz, gebunden.

Auch die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit ist nach deutschem Recht an einen persönlichen Besuch beim Arzt verbunden — zu groß die Sorge, Beschäftigte könnten die Ferndiagnose missbrauchen und sich am Bildschirm schlicht krankstellen, um einen freien Tag zu ergattern.

Grundsätzlich stellt sich die Frage, wie bei telemedizinischen Leistungen die Qualitätsstandards gesichert werden können. Kritiker haben auf dem Ärztetag in Erfurt schon das Schreckgespenst schlecht ausgebildeter Callcenter-Mitarbeiter beschworen, die im Auftrag gewinnorientierter Konzerne Diagnosen am Fließband ausstellen und in Konkurrenz zu Vertragsärzten und Klinikbetreibern treten. Darüber hinaus hat der Arzt nicht die Möglichkeit, den Patienten zu befühlen, zu betasten und Körperregionen abzuklopfen: Der körperlichen Untersuchung sind durch die Distanz Grenzen gesetzt.

Haftung umstritten

Die Wettbewerbszentrale hebt ein weiteres Moment hervor, weshalb man sich zu einer Klage gegen Ottonova entschlossen hat: Haftungsfragen sind strittig, etwa bei Fehldiagnosen. Das gilt besonders dann, wenn die Ärzte wie in diesem Fall in einem Nicht-EU-Land sitzen. Es sei nicht geklärt, wohin sich die Patienten wenden können, um zum Beispiel die Diagnose zu überprüfen.

In Deutschland wäre für Privatpatienten zwar ohnehin der Versicherer erster Ansprechpartner, da sie nicht das Prüfverfahren des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen in Anspruch nehmen können. Der MDK stellt Gutachten zu vermeintlichen Behandlungsfehlern aus, aber nur für gesetzlich Versicherte. Zusätzlich sind für Privatversicherte die Schlichtungsstellen der Ärztekammern mögliche Vermittler zwischen Arzt und Patient.

Gilt deutsches oder Schweizer Recht?

Die Unklarheit bei der Haftung ist ein wesentlicher Grund, weshalb die Wettbewerbszentrale gegen Ottonova vor Gericht zog. Die Krankschreibung per Telefon oder Videokonferenz bei unbekannten Patienten ist in Deutschland weiterhin nicht zulässig, auch wenn das Fernbehandlungsverbot gelockert wurde: in der Schweiz nur in bestimmten Grenzen. Hier ist auch die Frage, welches Recht anzuwenden wäre.

Während die Wettbewerbszentrale darauf beharrt, dass die Behandlung in Deutschland stattfinde und entsprechend deutsches Recht gelte, sieht dies Ottonova anders. Die Werbung für telemedizinische Video-Konsultation wäre nur dann unzulässig, wenn die Art der angebotenen Fernbehandlung selbst unzulässig wäre, heißt es in einem Statement, das der Versicherer anlässlich der Klage im Juni 2018 verschickt hat. Weil aber Telemedizin in der Schweiz erlaubt sei, verstoße man auch nicht gegen das Gesetz.

Hier hat sich nun das Landgericht München für eine strenge Auslegung des Heilmittelwerbegesetzes entschieden: ohne dass genaue Details zur Begründung bisher bekannt wären. Roman Rittweger, Vorstandsvorsitzender der Ottonova Holding AG, betrachtet dies als nicht mehr zeitgemäß:

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„Ich bedaure die Entscheidung des Landgerichts, das sich streng am Wortlaut des §9 HWG orientiert und anscheinend die aktuellen Gesetzesinitiativen und Entwicklungen zur Zukunft der Telemedizin außer Acht lässt", sagte Rittweger. Und weiter: "Wir appellieren an die Bundesregierung, das neue Digitalisierungsgesetz zügig zu verabschieden und umzusetzen, damit wir in Deutschland nicht weiterhin wegen veralteter Gesetze den Anschluss im internationalen Wettbewerb um innovative Gesundheitsdienstleistungen verlieren".

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