Es ist ein nur kleiner Passus, versteckt auf Seite 124 des vorläufigen Koalitionsvertrages von Union und SPD. Aber es ist ein Passus, der viele in der Versicherungsbranche aufhorchen lassen dürfte. Wenn es zu einer Neuauflage der Großen Koalition kommt, will es die neue Bundesregierung erleichtern, dass sich Verbraucher zu Klagekollektiven zusammenfinden. Mittel zur Wahl soll eine sogenannte Musterfeststellungsklage sein.

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“Durch die Einführung einer Musterfeststellungsklage werden wir die Rechtsdurchsetzung für die Verbraucherinnen und Verbraucher verbessern“, so steht es im Koalitionsvertrag. Auf die Klausel macht am Montag das Fachportal „Versicherungswirtschaft heute“ aufmerksam. Diese Musterfeststellungsklage birgt auch für die Versicherer Sprengkraft. Sie müssen fürchten, dass Klagekollektive in Rechtsstreiten schneller und umfassender Ansprüche durchfechten können.

Musterfeststellungsklage = Sammelklage? Mit Grenzen!

Ein Blick auf den Status Quo: Aktuell ist es deutschen Bürgern, anders als etwa in den USA, nicht möglich, sich zu Sammelklagen zusammenzufinden. Oft muss jeder Bürger einzeln sein Recht durchsetzen, notfalls über alle Instanzen, auch wenn es bereits ein vergleichbares Urteil zu seiner Rechtssache gibt. Das erschwert es in Deutschland deutlich, Ansprüche gegen Konzerne geltend zu machen. Ein Rechtsstreit kostet Geld, Zeit und viele Nerven. Wer in Deutschland klagt, ist in der Regel Einzelkämpfer: auch wenn Verbraucherverbände schon heute gelegentlich Mitglieder bei wichtigen Klagen unterstützen.

In den Vereinigten Staaten ist das anders. Hier erlaubt es die Justiz bereits seit 50 Jahren, dass sich Verbraucher zu Sammelklagen im Zivilrecht zusammenfinden ("Class Action"). Das kann sehr erfolgsvorsprechend sein, wie jüngst der VW-Skandal um Dieselgate zeigte. VW hatte Dieselautos mit einer Software manipuliert und so Millionen Kunden getäuscht, weil die PKW mehr Abgase ausstießen als zugesichert. Während deutsche Käufer leer ausgingen, musste VW an amerikanische Kunden insgesamt 21 Milliarden Dollar an Schadensersatz zahlen, nachdem eine Sammelklage in einen Vergleich mündete.

Soll nun eine derartige Sammelklage auch in Deutschland eingeführt werden? Jein. Denn anders als in den USA soll es eine zusätzliche Hürde geben. Nur „festgelegte qualifizierte Einrichtungen“ sollen klagen dürfen, so heißt es im Koalitionspapier von Union und SPD: also zum Beispiel die Verbraucherzentralen und andere Verbraucherverbände. Verbraucher können sich den Klagen dann anschließen.

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Neu ist der Vorstoß nicht. Er greift einen Gesetzentwurf des noch amtierenden Bundesjustizministers Heiko Maas (SPD) auf, der im Juli 2017 bereits auf der Justizministerkonferenz der Länder in Deidesheim diskutiert wurde (hier als pdf einsehbar). In dem Entwurf wird auch benannt, welche Voraussetzungen die „qualifizierten Einrichtungen“ mitbringen müssen. Unter anderem sollen sie § 4 des Unterlassungsklagegesetzes (UKlaG) oder ähnlicher EU-Vorgaben erfüllen. Der Paragraph schreibt vor, dass die Verbände seit mindestens einem Jahr existieren, eine Mindest-Mitgliederzahl haben und bestimmte Transparenzpflichten erfüllen.

Angst vor Klageindustrie - "erhebliche Unsicherheit" für Versicherer und Banken

Als Bundesjustizminister Heiko Maas ein entsprechendes Musterklagerecht 2017 anstoßen wollte und die Idee der Musterfeststellungsklage vorstellte, blies im schnell ein heftiger Gegenwind entgegen. Mehrere Unionspolitiker intervenierten dagegen, darunter der damalige Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) und Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU). Die Begründung lässt aufhorchen. Ein entsprechendes Musterklagerecht würde eine “erhebliche Unsicherheit” für “Versicherer und Banken” bedeuten, zitierte damals die Süddeutsche Zeitung aus einem internen Briefaustausch (der Versicherungsbote berichtete).

Eintrag in Klageregister hemmt Verjährung

Zwar sind Musterfeststellungsklagen in bestimmtem Umfang schon heute im deutschen Recht möglich. Doch durch den Eintrag in ein sogenanntes Klageregister wäre es Verbrauchern zukünftig möglich, die Verjährung zu ,hemmen’ und abzuwarten, wie sich die Rechtsprechung entwickelt. Danach könnten sie mit deutlich reduziertem Risiko ihre Rechte verfolgen.

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Die Vorteile eine Verjährungshemmung liegen auf der Hand. So gingen viele Privatanleger, die vor der Finanzkrise hochriskante Geldanlagen aufgeschwatzt bekamen und ihre Altersvorsorge verloren, vor Gericht leer aus. Ihre Ansprüche, zum Beispiel wegen Falschberatung, waren schlicht verjährt. Künftig dürften sie länger auf eine erfolgreiche Klage hoffen.

Auch der aktuelle Koalitionsentwurf von Union und SPD sieht vor, dass ein Eintrag in das Klageregister die Verjährung hemmt, wenn Verbraucher kollektiv gegen ein Unternehmen streiten. Und es gibt bereits einen Fahrplan: "Wir werden drohende Verjährungen zum Jahresende 2018 verhindern und deshalb das Gesetz (spätestens) zum 1. November 2018 in Kraft treten lassen", heißt es im Papier.

Verbraucherrecht gestärkt, aber...

Aktuell laufen mehrere Rechtsstreite gegen Versicherer, die von der Neuregelung betroffen sein könnten. So vertritt der Berliner Rechtsanwalt Knut Pilz mehrere privat Krankenversicherte, die gegen Prämienerhöhungen in der Krankenvollversicherung klagen. Es besteht der Verdacht, dass Treuhänder Beitragsanpassungen empfohlen haben, obwohl sie befangen waren und unter dem Einfluss der Versicherer standen. Werden die Prämiensprünge für unwirksam erklärt, müssen die betroffenen Versicherer sehr wahrscheinlich Millionen Euro an ihre Kunden zurückzahlen. Bereits mehrere Gerichte urteilten zum Vorteil der Verbraucher. Im Herbst wird ein Richterspruch des Bundesgerichtshofes erwartet (der Versicherungsbote berichtete).

Verbraucherinteressen würden also durch die Gesetzreform gestärkt. Doch es gibt berechtigte Einwände gegen die Sammelklagen. In den USA habe sich eine wahre Klageindustrie etabliert, so berichtet der "Deutschlandfunk": Große Anwaltskanzleien durchkämmen Medien nach Unfallgeschädigten und vermeintlichen Verbraucherskandalen. Dann schreiben sie Betroffene aktiv an und sammeln Klagewillige ein. Je mehr Menschen mitklagen, desto höher das Honorar der Anwälte. Oft würden die Rechtsstreite dann mit einem Vergleich enden und die Verbraucher nur wenige hundert Euro Schadensersatz erhalten. Im Gegensatz zu den Juristen, die Millionen-Honorare kassieren.

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Wirtschaftsnahe Verbände warnen vor negativen Folgen für die Unternehmen, sollte die Musterfeststellungsklage in Kraft treten: Ihnen drohen existenzbedrohende Schadensforderungen. Unter anderem hatte sich der Gesamtverband der Deutschen Versicherugswirtschaft (GDV) im September 2017 derart positioniert. Dass diese Ängste nicht unbegründet sind, zeigt ebenfalls ein Blick über den Teich. Nach seriösen Schätzungen geben Unternehmen in den USA pro Jahr rund 200 Milliarden Dollar für die anfallenden Verfahrenskosten aus, berichtet der "Spiegel". Tendenz steigend.

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