Ein Gastkommentar von Matthias Wühle

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„Moral das ist wenn man moralisch ist“ – mit dieser Erklärung des Hauptmanns aus Büchners Romanfragment „Woyzeck“ konnte sich selbstverständlich weder Woyzeck noch der Leser zufriedengeben. Büchner entlarvte damit die Scheinheiligkeit der gesellschaftlichen Moraldebatte. Aber hätten wir eine bessere Antwort parat, als die platte Tautologie des Hauptmanns?

Vielen scheint eine Antwort darauf, was Moral ist, nur im Negativen möglich zu sein. Was unmoralisch ist, das scheint anhand von Beispielen schnell erklärt zu sein: Nacktheit oder unzüchtige Kleidung in der Öffentlichkeit sagen die einen, hohe Managergehälter sagen die anderen. Aber besonders bei Beispielen, die nicht strafrechtsrelevant sind und wo anscheinend die Moral besonders gefragt ist, scheiden sich oft die Geister: Abtreibung? Zweistellige Dispozinsen? Fragwürdige Versicherungsprodukte? Alles zumindest in Deutschland nicht verboten – und dennoch in den Augen einiger unmoralisch.

Moral ist Mehrheitsmeinung

Es fällt auf, dass Vieles, was als unmoralisch gilt, ursprünglich religiös begründet wurde. Mit der Aufklärung verschwand nicht nur die Begründungs- und Rechtfertigungsgrundlage für Moralvorstellungen, auch der Zeitgeist spülte weg, was Dogmatiker einst übriggelassen hatten. Übrig blieb ein Moralempfinden, das nichts weiter ist, als das subjektive Empfinden einer Mehrheit von Personen, zumindest innerhalb von abgegrenzten Kulturbereichen, wie Staaten. Manchmal wird im Laufe der Zeit aus der Mehrheit eine Minderheit. Dann muss sich selbst das deutsche Rechtssystem den verändernden Moralvorstellungen beugen. Die Todesstrafe? Wurde 1949 abgeschafft. Schwangerschaftsabbruch? Seit 1976 weitestgehend straffrei. Homosexuelle Handlungen? Seit 1994 ohne juristischen Belang. Aber wie kommt das, das heute offenbar etwas moralisch sein kann, was Jahre zuvor noch als unmoralisch galt? Ist denn alles beliebig geworden? Und ist nicht auch die Wirtschaft ein unmoralischer Sündenpfuhl?

Offenbar treibt es die Wirtschaft besonders bunt, wie es nicht nur in Wahlkampfzeiten von Wahlplakaten herunterschreit: Da gibt es ungerechte Löhne, überzogene Managergehälter und betrügerische Finanzberater. Firmen sonnen sich in Steueroasen, Versicherungsgesellschaften knausern mit Zinsen, während Banken beim Dispokredit richtig zulangen. Das alles erscheint ungerecht und ist darüber hinaus weitestgehend straffrei. Wo findet man eine Antwort darauf?

Wie sich Moral selbst durchsetzen kann

Im lärmenden Wahlkampfgetöse findet man die Antwort darauf jedenfalls nicht. Dafür aber in der Mathematik, genauer: In der Spieltheorie. Hierzu forschte auch Deutschlands einziger Preisträger des alternativen Wirtschaftsnobelpreises, der kürzlich verstorbene Reinhard Selten. Zu seinem Forschungsgebiet zählt auch das Nash-Gleichgewicht, ein Phänomen der Entscheidungstheorie, das nach seinem Kollegen John Nash benannt wurde. Mit Hilfe der Spieltheorie lässt sich erklären, welche Entscheidungen vor welchem Hintergrund sinnvoll sind und warum diese mitunter dennoch zu suboptimalen Ergebnissen führen können. Mit ihrer Weiterentwicklung, der evolutionären Spieltheorie lassen sich zudem Aussagen darüber treffen, unter welchen Voraussetzungen sich Nash-Gleichgewichter auflösen lassen, beispielsweise, wenn die langfristigen Nutzenerwartungen den kurzfristigen Nutzen übersteigen. Moral kann sich dann, so scheint es, von selbst durchsetzen. Damit wird ein alter Traum der Moralphilosophie wahr, den Arthur Schopenhauer 1840 in seiner Preisschrift „Über die Grundlage der Moral“ formuliert hatte. Danach kann Moral nur dann Gültigkeit besitzen, wenn sie in der Lage ist, sich selbst durchzusetzen, wie das die Spieltheorie aufzeigt.

Was unmoralisch ist, ist zunächst einmal unökonomisch

So ist auch die Versicherungswirtschaft auf eine Matrix von Strategieentscheidungen reduzierbar, die der einzelne Versicherte im Angesicht der Entscheidungen der Versichertengemeinschaft trifft – oder aber auch die von der Versicherungsgesellschaft selbst getroffen werden. Eine überhöhte Schadensmeldung auf Kosten der Versichertengemeinschaft? Eine Ablehnung der Berufsunfähigkeitsversicherung für den älteren Antragsteller (der zudem auch noch Dachdecker ist)? Beides fällt unter dem Begriff „Moral Hazard“ und ist eine rein ökonomische Beschreibung spieltheoretischer Überlegungen.

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Wirtschaft ist also nicht in erster Linie unmoralisch, Wirtschaft ist ökonomisch und basiert damit auf mathematischen Überlegungen. Hier – in der Ökonomie selbst liegt der Schlüssel für das Verständnis von Moral. Was Ökonomen als Problem wahrnehmen, ist auch das, was am Ende als unmoralisch wahrgenommen wird. Wir tun also gut daran, diese Zusammenhänge besser verstehen zu lernen, als pauschal die Wirtschaft als Hort der Unmoral zu brandmarken.

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