Versicherungen: Neue alte Nein-Sager?

Der Magazin-Bericht des Spiegel (Printausgabe) vom vergangenen Samstag reiht einen Fall nach dem anderen auf. Keine Extremfälle zu scheinbar dubiosen Schäden, also nicht etwa das vierte geklaute Harley-Davidson-Motorrad einer Rockertruppe, sondern es werden durchaus Normalmenschen, Unfallopfer und ihre Erfahrungen mit Versicherungen beschrieben. Nach dem Bericht des Norddeutschen Rundfunks aus dem Jahr 2012 „Die Nein-Sager“ legt mit dem Hamburger Nachrichtenmagazin nun ein weiteres Leitmedium mit tief recherchierten Fakten und Kritik an der Zahlungsmoral der Versicherer nach.

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300.000 statt 900.000 Euro Schadenszahlung

Ein Beispiel sei der 48-jährige Jens Urban, der nach einem unverschuldeten Autounfall 15 Jahre unter anderem gegen die Allianz Versicherung um Entschädigung rang; so der Spiegel-Bericht. Mit 33 Jahren wurde Urban „vom Familienernährer zum Pflegefall“. Etwa zwei Jahre nach dem Unfall habe Urban sich zu einen Vergleich mit dem Haftpflichtversicherer des Unfallgegners breitschlagen lassen und rund 300.000 Euro bekommen. Seinen heutigen Anwalt Joachim Laux zitiert Der Spiegel so: „Mindestens 900.000 Euro wären angemessen gewesen.“

Seit 2004 prozessiere Urban gegen Allianz und Continentale, heißt es in den Bericht. Der Vergleich mit der Continentale sei nach sieben Jahren erfolgt. Rechnerisch, und wenn man den Aussagen des Anwaltes Laux folgt, offenbar mit 300.000 statt 900.000 Euro rund 600.000 Euro zu wenig Entschädigung. Das war im Jahr 2011. Sein „Vergehen“: Keines. Urban ist Unfallopfer. Mit der Allianz sei der Streit vor Gericht weiter gegangen. Im Dezember 2014 habe das Berliner Landgericht im Urteil festgestellt, Urbans seit dem Unfall bestehende Inkontinenz sei tatsächlich „unfallbedingt“. Die Allianz habe weitere 178 000 Euro zu zahlen.

Allianz: „Kurzfristig einvernehmlicher Abschluss“ - nach 15 Jahren!

Jedoch sei die Allianz gegen das Urteil in Berufung gegangen. Erst als sich laut Spiegel abzeichnete, dass die Allianz auch in der Berufung unterliegen würde, wollte die Allianz „die Angelegenheit kurzfristig zu einem einvernehmlichen Abschluss“, wird das Unternehmen zitiert. Zu dem Wort „kurzfristig“ schreibt das Nachrichtenmagazin: “Kurzfristig. Nach 15 Jahren“.

Das Fazit des Spiegel: Bei Versicherten in Not werde Hilfe „verzögert, verschleppt, verweigert“. Und bei größere Schadenssummen zeigten sich die Unternehmen „hart“.

„Leistungen ohne Grund verweigert“

Weiter präsentiert das Hamburger Nachrichtenmagazin Zahlen des Deutschen Anwaltvereins, die das Meinungsforschungsinstitut Forsa zum Regulierungsverhalten der Versicherer bei mehr als 1.200 Anwälten erhoben hatte. Demnach hätten 70 Prozent der befragten Anwälte angegeben, die Schadenregulierung habe sich „in den vergangenen fünf Jahren verschlechtert“. Genannt worden seien „längere Bearbeitungszeiten und Verzögerungstaktiken“. Leistungen seien ohne Grund verweigert worden, teils gar „bewusst“ entgegen höherinstanzlichen Urteilen zugunsten der Versicherten. Zitiert wird Jörg Elsner vom Deutschen Anwaltverein, die Versicherer würden betriebswirtschaftlich „knallhart“ kalkulieren statt sofort zu regulieren und „abwarten, wer denn wirklich eine Klage erhebt“.

30 Jahre Klage

Weiter schildert Der Spiegel den Fall von Claudia Bernert aus Immenstadt im Allgäu; wieder zur Allianz. Ihr heute 30-jähriger Sohn sei durch die Umstände der Geburt schwerbehindert, wegen laut Gutachter „eindeutiger Behandlungsfehler“ bei bzw. nach der Entbindung, berichtet das Magazin. Acht Jahre lang sei die Familie Bernert hingehalten worden; vier Prozesse lang, bis die Allianz als Versicherer des Arztes und der Hebamme 1,8 Millionen Euro als Vergleichssumme anbot. 20 Jahre nach der Geburt oder mutmaßlich wegen der Geburtsumstände des behinderten Sohnes von Claudia Bernert.

Diesen Vergleich, der Fall geht bereits seit Jahren durch die Presse, hatte die Familie Bernert abgelehnt. Dennoch wolle oder wollte die Allianz, so der Spiegel-Bericht, „nach Sach- und Rechtslage so zeitnah wie möglich“ den Fall zum Abschluss bringen. „Zeitnah“ klingt ohne jede Kommentierung zynisch. Nach 20 Jahren. Dennoch habe die Allianz immer wieder Berufung eingelegt “wann immer der Behinderte und seine Mutter vor Gericht gewannen“, schreibt Der Spiegel, der über den Fall ebenfalls in der Vergangenheit, so geschehen zuletzt im Jahr 2013, berichtete.

„Zermürbende Rechtsstreitigkeiten“ - Kalkül?

Auch wegen des öffentlich gewordenen Falles Bernert habe das Bundesjustizministerium vor gut drei Jahren die Länder-Justizverwaltungen zum Regulierungsverhalten von Versicherungen befragt. Laut der Zusammenfassung des Spiegel würden „Versicherer mit erheblicher Verzögerung“ zahlen und ihre „wirtschaftlich stärkere Position“ ausnutzen, um Versicherte „in zermürbenden Rechtsstreitigkeiten zur Aufgabe“ vor Gericht zu bringen. Oder zu zwingen. Das liegt im Auge des Betrachters solcher Aussagen. Betroffene, Versicherte, die den Schaden haben, urteilen naturgemäß härter. Aber vorgenannte Aussagen kommen von Justizverwaltungen; nicht von Versicherungskunden.

„Gegen Treu und Glauben verstoßender Zermürbungsversuch“

Zwei Beispiele zählt Der Spiegel auf. Im Falle einer 45jährigen Frau, die nach einem unverschuldeten Unfall im Rollstuhl landete hatte das Oberlandesgericht München nicht nur 100.000 Euro Schmerzensgeld zugesprochen, sondern auch ins Urteil geschrieben, dass sich die Versicherung „vorwerfen lassen muss, die Schadensregulierung nur zögerlich betrieben zu haben“. Einem Rollerfahrer seien nach einem Crash gegen einen unbeleuchteten Anhänger 35.000 Euro Schmerzensgeld zugesprochen worden. „Trotz schwerster innerer Verletzungen hatte die Kfz-Versicherung zunächst nur 2000 Euro gezahlt“, schreibt Der Spiegel und zitiert nach eigenen Angaben aus den Gerichtsakten von einem „gegen Treu und Glauben verstoßenden Zermürbungsversuch“.

Rechtsfindung auf der Seite der Versicherer?

Der Spiegel berichtet etwa von der Kölner Rechtsanwalts-Kanzlei Bach Langheid Dallmayr (BLD) mit mehr als 120 Anwälten. Die Kanzlei sei mit weiteren Anlaufstellen auch in München, Frankfurt, Berlin und Karlsruhe vertreten und verfüge über ein eigenes „Betrugsaufklärungszentrum“, um „Versicherungskunden kriminelles Verhalten nachzuweisen“, heisst es in dem Bericht. Die Anwaltsfirma publiziere darüber hinaus „in wichtigen Fachzeitschriften“ und schreibe einflussreiche Kommentare zu Gesetzen und Urteilen – mitunter zusammen mit Richtern. So stammt ein „Standardwerk zum Versicherungsvertragsgesetz von einem geschäftsführenden BLD-Partner, einem Oberlandesgerichtspräsidenten und einem früheren Richter am Bundesgerichtshof“. Seit 2008 seinen allein in der Zeitschrift „Versicherungsrecht“ rund 70 Aufsätze und Anmerkungen aus der BLD-Kanzlei eingeflossen, will Der Spiegel gezählt haben.

„Verquickung zwischen Justiz und Versicherungen“

Das sei „nicht die einzige Verquickung zwischen Justiz und Versicherungen“. „Nahezu im Wochentakt“ säßen „Heerscharen von Sachbearbeitern und Rechtsanwälten in Fortbildungen und Praktikerseminaren“. Auch hier träten als Referenten „hochrangige Richter auf“.

Für eine Veranstaltung im November zum Thema „Neueste Rechtsprechung zur Allgemeinen Unfallversicherung“ zählt Der Spiegel Referenten auf: Professor Roland Rixecker, Präsident des Saarländischen Oberlandesgerichts, Dr. Herbert Tschersich, Vorsitzender Richter a. D. am Landgericht Dortmund. Moderatoren solcher Veranstaltungen kämen oft von BLD-Rechtsanwälten, so Der Spiegel weiter.

„Da sich Assekuranzangestellte, Anwälte und Richter oft auf die versicherungsfreundlichen Ausbilder, Kommentare und Standardwerke beziehen, ist es fast zwangsläufig so, dass in Streitfragen die Versicherungen und ihre Anwälte gute Karten haben“, schreibt das Magazin. So entstamme zum Beispiel auch das Standardwerk „Ersatzansprüche bei Personenschaden“,von Gerhard Küppersbusch. Nach Angaben des Spiegel vormals 35 Jahre Jurist bei der Allianz, nun Leiter des Personenschadenzentrum der BLD-Kanzlei.

GDV bringt kleine und große Zahlen

Dennoch sei laut Berichten der Justizbehörden der Bundesländer bei den Versicherern und ihrer Schadenregulierung „eine generelle Verweigerungshaltung sei nicht erkennbar“. Hierzu hatte auch der GDV-Verband Zahlen vorgelegt:

  1. Nur 0,6 Prozent der Kompositschäden seien gerichtsanhängig und rund 30 Prozent der mündeten in einem „einvernehmlichen Vergleich“
  2. Die Prüfung „überhöhter Forderungen“ (GDV) erfolge im Interesse aller Versicherten, denn hohe Schadensaufwendungen bedeuten oft auch steigende Beiträge. Aber: Auch die anderen Kunden haben ein Interesse daran, dass im Schadensfall eine schnelle Regulierung erfolgt.
  3. Die „allermeisten Fälle“ der 23 Millionen Schäden pro Jahr würden binnen kurzer Frist abgeschlossen;
  4. Bei der hohen Schadenzahl „können Fehler nicht immer zu hundert Prozent ausgeschlossen werden“.

Kein Versicherungs-Schadenregulierungs-Verbesserungsgesetz

Aufgrund der GDV-Zahlen nähmen die Versicherer, repräsentiert durch ihren Verband, eine „hochprofessionelle Schaden- und Leistungsfallbearbeitung“ für sich in Anspruch, gesetzliche Änderungen seien nicht erforderlich. Und die Justiz oder der Gesetzgeber? Eine Art Versicherungs-Schadenregulierungs-Verbesserungsgesetz (so könnte es etwa heißen) gibt es bis heute nicht.

Weiter argumentiert der GDV mit dem zunehmendem Versicherungsbetrug. Nach Angaben des Versicherungs-Dachverbandes sei „einer von zehn Schadensfällen frei erfunden“. In Geld gehe es dabei um vier Milliarden Euro.

GDV verteidigt sich: Prozess- und Beschwerdequoten seit Jahren gering

Und so äußert sich auch der GDV zu dem neuesten Spiegel-Bericht. Jörg von Fürstenwerth, Vorsitzender der GDV-Hauptgeschäftsführung, sagt: „Versicherer sind im Schadenfall zuverlässige Partner“ mit einem “Interesse an einer unkomplizierten Schadenbearbeitung“, daran bemesse sich das Vertrauen ihrer Kunden. Und hierzu oblige den Versicherern eine Sorgfaltspflicht, berechtigte von unberechtigten Ansprüchen zu trennen. Die Prozess- und Beschwerdequoten seien in den Augen des GDV seit Jahren sehr gering.

Den Zahlen und Fakten nach sei das Konfliktpotenzial zwischen Kunden und ihren Versicherern „deutlich geringer ist als es teilweise öffentlich dargestellt wird. Versicherer verzögern nicht und finden auch in strittigen Fällen fast immer Wege, die den Belangen aller Beteiligten gerecht werden“. Es gäbe „keine Indizien für einen systematischen Missstand.“

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Sodann liefert der GDV „Fakten zur Schadenregulierung im Überblick“ (im Folgenden leicht gekürzt):

  1. Versicherer leisten Milliarden: Mit einem Volumen von rund 50 Milliarden Euro in Komposit und gut 79 Milliarden Euro (2013) in der Lebensversicherung erbrächten deutsche Versicherer jährlich Leistungen in beträchtlichem Umfang für ihre Kunden. Es lägen, so der GDV, keine Indizien für einen systematischen Missstand bei der Schadenregulierung vor.

    Bei der letzten großen Flut an Elbe und Donau im Jahr 2013 seien 85 Prozent der Schäden weit entfernt von klassischen Überflutungsgebieten eingetreten. Für viele Immobilienbesitzer hätten die Versicherer zügig reagiert und rund 140.000 Schäden mit rund 1,8 Milliarden Euro reguliert. In einer Forsa-Erhebung, so der GDV aktuell, hätten 80 Prozent der Kunden angegeben, dass sich ihr Versicherer innerhalb von wenigen Tagen um den Schaden gekümmert habe. „Bei zwei Dritteln der Befragten hatte der Versicherer die Schäden bereits vollständig oder teilweise erstattet“, so der GDV.

  2. Geringes Beschwerde- und Prozessaufkommen: Konflikte zwischen Geschädigtem und Versicherer seien die Ausnahme. Im Schnitt landen nur 0,6 Prozent (Komposit) und 2 Prozent (Berufsunfähigkeitsversicherung - BU) der Versicherungsfälle vor Gericht. Davon werden rund 30 Prozent (Schaden- und Unfallversicherung) und 50 Prozent (BU) durch Vergleich beigelegt. Nur in 22 Prozent (Sach) und 15 Prozent (BU) der Urteile wurde von den Gerichten gegen die Versicherer entschieden (Zahlen aus 2013).
  3. Keine Anhaltspunkte für Verzögerung: Das Bundesministerium der Justiz (BMJ) hatte 2013 die Landesjustizverwaltungen sowie mehrere Verbände um eine Einschätzung zur aktuellen Regulierungspraxis der Versicherer gebeten. (…) Justizverwaltungen könnten die Vorwürfe „ganz überwiegend“ nicht bestätigen. Das heißt:„Keine Zunahme eines zögerlichen Regulierungsverhaltens beziehungsweise keine Zermürbungsversuche“. Zudem sei das geltende Recht ausreichend, um eventuelle Verzögerungstaktiken zu unterbinden oder zu sanktionieren. Ähnlich habe sich der Versicherungsombudsmann geäußert.

    Eine Umfrage des Deutschen Anwaltvereins (DAV) unter seinen eigenen Mitglieder, wonach sich das Regulierungsverhalten von Versicherern verschlechtert habe, greift zu kurz (sagt der GDV). Es gibt keine Hinweise auf einen Anstieg juristisch anfechtbarer Regulierungspraktiken der Versicherer.

  4. Zur Sorgfalt verpflichtet: Die Gesamtheit der Versicherten trägt mit ihren Beitragszahlungen jeden Schaden, daher sind Versicherer in der Pflicht sorgfältig zu prüfen. Nur so können im Einzelfall berechtigte Ansprüche von unberechtigten Forderungen unterschieden und Prämienerhöhungen vermieden werden. Das betont das Justizministerium in seinem Schreiben aus 2013 zur Schadenregulierung der Versicherer. Bei Haftpflichtschäden ist der Versicherer sogar gesetzlich verpflichtet, unberechtigte Ansprüche abzuwehren, um seinen Kunden zu schützen.
  5. Zügige Leistungserbringung: Sachschäden werden dagegen in der Regel sehr kurzfristig reguliert. Wenn Personen zu Schaden gekommen sind, erstreckt sich die Regulierung naturgemäß über einen längeren Zeitraum: Denn die Höhe der Leistungen hängt maßgeblich vom individuellen Heilungsverlauf ab und kann nicht von vornherein abschließend prognostiziert werden.
  6. Rechtsrahmen habe sich bewährt: Die Branchenzahlen belegen vielmehr, dass die derzeitige Regulierungspraxis den Bedürfnissen aller Beteiligten gerecht werde.

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