V.E.R.S. Leipzig GmbH veranstaltete im November 2014 eine Konferenz mit dem Titel "Digitalisierung: Potenziale und Handlungsfelder für die Assekuranz". Moderiert wurde die Veranstaltung von Prof. Dr. Fred Wagner, Vorstand im Institut für Versicherungswissenschaften an der Universität Leipzig, Mitglied im Verwaltungsrat der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) sowie Mitglied im Deutschen Rechnungslegungs-Standards-Committee, AG Versicherungen.

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Versicherungsbote: Auf den ersten Blick klingt Digitalisierung nach einem sehr technischen Thema für IT-Experten der Versicherungen. Warum haben Sie Digitalisierung in der Assekuranz als Schwerpunktthema der Veranstaltung gewählt?

Prof. Dr. Fred Wagner:
Digitalisierung klingt auf der einen Seite technisch, weil der Begriff im Grunde nur die elektronische Umsetzung von Kommunikation im weiteren Sinne impliziert. Damit verbunden sind aber eine Reihe von Implikationen für die Versicherungsunternehmen, die sehr fachlich sind. Ich würde fast sagen, Digitalisierung revolutioniert das Geschäftsmodell von Versicherungsunternehmen. Wir reden hier über ganz andere, ganz neue und erweiterte Möglichkeiten der Gewinnung von Daten. Daten von Risiken, Daten von Kunden, die Versicherer gewinnen, ganz andere Zugangswege. Daran beteiligt sind Inter­net, Social Media und alle Medien, mit denen im Unternehmen Schnittstellen geschaffen werden können – und zwar in Echtzeit. Wir haben damit schon einmal ganz andere Ausgangspunkte für die Schaffung, Gewinnung, Verarbeitung, Speicherung und Auswertung von Informationen.

Dass dies natürlich mit IT zusammenhängt, ist völlig klar. Dass dies für die Prozesse der Informationsbearbeitung, für die Prozesse und Strukturen in der IT große Relevanz hat und hohen Veränderungsbedarf mit bringt, ist auch klar. Und damit gelangt man von den Daten über die IT zu den Prozessen: Digitalisierung verändert Prozesse.

Es gibt deutlich mehr Möglichkeiten und Gelegenheiten für Standardisierung, Automatisierung und damit Industrialisierung. Dies betrifft alle innerbetrieblichen Prozesse im Versicherungsunternehmen und jene Prozesse, die Versicherungsunternehmen mit außenstehenden Dritten aufwenden, also mit Kunden, Vertriebspartnern oder Leistungserbringern im Schadenfall wie Autohäusern, Rechtsanwälten usw. Und wir erfahren nicht nur einen ganz anderen prozessualen Umgang mit den Partnern – durch Digitalisierung treten auch erstmal überhaupt neue Partner auf, z.B. Vergleichsportale, die es ja schon gibt und die ohne elektronische Konstrukte gar nicht denkbar wären, Google, Autohäuser oder der gesamten Telematikbereich.

Und so gelangt man zu Produkten: Digitalisierung und Vernetzung führt zu ganz anderen Produktmöglichkeiten im Versicherungsunternehmen. Dabei denke ich an die Tarifierung von Produkten, Pay as you drive, Pay how you drive bis hin zu anlassbezogenen Produkten: Stellen Sie sich vor, sie stehen auf dem Skilift und brauchen anlassbezogen eine Versicherung rund um das Skifahren, etwa eine Sachversicherung, Krankenversicherung oder Berufsunfähigkeitsversicherung – vielleicht auch nur für die Zeit dieses Ereignisses. Denken Sie auch an das Thema Car-Sharing, selbstfahrende Autos: Was ergibt sich daraus für die Kfz-Versicherung? Das alles ist durch Digitalisierung betrieben und verändert evolutionär, aber vermutlich radikal die Geschäftsmodelle.

Der Kunde denkt: Ich habe ein Problem und will es so gelöst haben, wie ich das möchte

Viele unserer Leser sind Versicherungsmakler. Sie nutzen digitale Medien, etwa Beratungssoftware, zugleich empfinden viele die Konkurrenz aus dem Internet als Bedrohung, etwa, weil Kunden zunehmend bei Online-Vergleichsportalen abschließen. Wie sehen Sie die Zukunft des ungebundenen Vermittlers in der digitalisierten Versicherungswelt? Bedeutet die Digitalisierung eine Bedrohung für den Berufsstand?

Ich bin kein Freund davon, vor Entwicklungen immer mit dem Argument Angst und Bedrohung davonzulaufen. Ich glau­be, dass alle, die diese Denkhaltung haben, in der Tat bedroht sind. Diejenigen aber, die neue Entwicklungen als Herausforderung und Chancen begreifen, die können mit ihren Geschäftsmodellen sogar noch reüssieren. Ich glaube, wir werden uns verabschieden müssen von getrennten Kanälen, wie wir sie heute kennen: Maklervertrieb, Bankenvertrieb, Vertreterbetrieb und Direktvertrieb und ebenso von getrennten Medien. Wir werden zunehmend eine Integration von Kanälen und Medien erleben.

Den Kunden interessiert nicht, mit welchem Kanal er umgeht, und welche Medien ihm teilweise angeboten werden. Er möchte den Ansprechpartner nutzen, nach dem ihm gerade ist, auch anlass- und produktdifferenziert, und er möchte das Medium dafür nutzen, das ihm dafür gerade am besten passt. Und alle sind gut beraten, eine Kanal- und Medienwelt integriert zur Verfügung zu stellen, die mit dem Kunden zu den von ihm angestoßenen Anlässen bestmöglich zur Verfügung stehen. Der Kunde denkt nicht in Kanälen und Medien, der Kunde denkt: „Ich habe ein Problem und will‘s so grad gelöst haben, wie ich das möchte.“

Den Kunden interessiert es also nicht, wen er vor sich hat, er möchte nur das Versicherungsprodukt bekommen, was er gerade sucht?

Mit dieser Aussage muss man vorsichtig sein. Es interessiert den Kunden sehr wohl, wen er vor sich hat – er möchte aber jederzeit entscheiden können, wen er jetzt, zu diesem Anlass, zu dieser Phase, vor sich haben möchte und über welchen Kanal das stattfindet. Keiner hat einen Anspruch auf Exklusivität dem Kunden gegenüber.

Makler müssen keine IT-Experten sein

Den Nutzen der fortschreitenden Digitalisierung bei der täglichen Arbeit bewerten Makler zum Teil skeptisch. Nur wenige Makler glauben, dass Digitalisierung Freiräume bei der eigenen Arbeit schafft, andere erleben Risiken wie die Abhängigkeit von IT, Datenschutz-Risiken, Informationsüberflutung und die Vermischung von Arbeit und Freizeit als einengend*. Besteht die Gefahr, dass Beratung und Kontakt zum Kunden leiden, weil der Vermittler quasi zu seinem eigenen IT-Experten werden muss?

Nein, das müssen sie nicht. Sie müssen auch kein Kfz-Mechaniker sein, um ein Auto zu fahren. Ob der Kontakt zum Kunden leidet oder nicht leidet, das entscheidet erstens der Kunde selbst: Möchte er einen persönlichen Kontakt haben oder genügt ihm ein digitaler Kontakt in einem bestimmten Anlass? Es ist zweitens davon abhängig, wie anpassungsfähig die persönlichen Vermittler – seien es Makler, seien es Vertreter, seien es Bankmitarbei­ter – an die integrierte Kanal- und Me­dien­welt sind. Ich kann natürlich auch mit Kunden über die digitalen Kanäle sehr persönlich umgehen – auch Telefonie ist ja nichts unpersönliches. Wenn dies eben mehr und mehr über Co-Browsing, Skype oder das Internet medial unterstützt wird, ist das für niemanden etwas Schlechtes.

Ich glaube auch nicht, dass der wirkliche, persönliche Kontakt face-to-face verloren geht. Der ist ohnehin zu wenig wahrgenommen worden in der Vergangenheit. Wie oft hat denn ein Vermittler persönlichen Kontakt zum Kunden gehabt? Hätte er mal soviel gehabt, wie das wünschenswert gewesen wäre, würde ich die Sorgen noch vielmehr verstehen, als ich sie heute verstehe. Es sollte immer noch Anlass geben für jeden Vermittler wenigstens einmal im Jahr persönlichen Kontakt zum Kunden zu haben.Wenn darüber hinaus der Kontakt durch die elektronischen Medien unterstützt vielleicht noch zunimmt, kann ich da keine Gefahr sehen – solange man einen Mehrwert für den Kunden aufzeigen kann.

Abgesehen davon denke ich, dass in Zukunft im einfachen standardisierten Privatkundenmassengeschäft persönlicher Vertrieb bzw. persönliche Beratung im transparenten Preiswettbewerb überhaupt nicht mehr bezahlbar sein wird. Beratungsintensive, komplexe Risikosituationen und Produktlösungen wie in der Alters-, Gesundheits-, Pflegeversorgung, Berufsunfähigkeitsversicherung und im gewerblichen bzw. industriellen Geschäft werden andererseits nicht alleine und nicht in erster Linie über elektronische Medien beraten werden können. Vermittler, die sich in Zukunft nicht auf komplexe Risikosituationen und das beratungsintensive Geschäft fokussieren können, werden ihre Daseinsberechtigung verlieren.

„Vermittler, die sich in Zukunft nicht auf komplexe Risikosituationen und das beratungsintensive Geschäft fokussieren können, werden ihre Daseinsberechtigung verlieren.“

Welche Entwicklungen sollten Makler im Auge behalten?

Sie sollten die Themen im Auge behalten, die ich zuvor dargestellt habe. Daneben müssen sie vor allem den hohen Anforderungen an laufende Qualifizierung gerecht werden. Ebenso haben sie die zunehmenden regulatorischen Anforderungen zu beachten. Und nicht nur regulatorisch, sondern auch durch Markt und Verbraucherschützer ist für sie das Transparenzthema wichtig: Makler müssen Transparenz schaffen.

Wie machen sie das?

Sie können über Produkte, über Preis-Leistungs-Relationen, im Zweifel über Kostensituationen Transparenz schaffen. Sie werden auch nicht scheuen dürfen, die Vertriebs- und Abschlusskosten zu adressieren, das wird IMD II in Zukunft verlangen. Und die technische Unterstützung – da sind wir wieder bei der Digitalisierung – ist sicher auch ein Megatrend, dem sich die Makler stellen. Aber nicht in Abgrenzung zum eigenen Ge­schäft, sondern integrierend.

Prof. Dr. Wagner, herzlichen Dank für die Einblicke!

* Studie von AssCompact, (Trends II/2014)

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Das Interview führte Hanna Behn. Es stammt aus dem aktuellen Versicherungsbote Fachmagazin vom 28. Oktober 2014. Die nächste Ausgabe erscheint am 12. Mai.

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