Der englische Schriftsteller Graham Greene hat es einmal den menschlichen Faktor genannt. Wir verhalten uns anders gegenüber jemandem, den wir kennen, als gegenüber jemandem, der uns fremd ist. Das Problem dabei ist, dass sich menschliche Kategorien nur schwer bemessen lassen. Viele ökonomische Theorien, eigentlich alle, gehen deshalb von anonymen Handelspartnern aus. Es wird gar nicht erst gefragt, in welchem Verhältnis Partner A zu Partner B steht: Verwandtschafts-, Freundschafts- oder sonstige Beziehungen sind nicht relevant - weder in den großen Wirtschaftstheorien noch in den Prüfverfahren der Betriebswirte. Das aber könnte sich als ein großer Mangel erweisen, zumindest wenn wir verstehen wollen, warum unsere Gesellschaft sich gegenwärtig in einer Krise befindet.

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Früher gab es in kleinen Läden die berühmte Kreidetafel. Ein Händler gab jemandem Kredit, weil man einander kannte. Ich kann mich noch erinnern, dass es in der Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin, Vertrauensbeziehungen zwischen den Leuten gab: beim Bäcker bekam ich das Brot umsonst in die Hand gedrückt, weil man wusste, in welche Familie ich gehörte. Und meine Mutter, wenn sie einmal nicht genug Geld im Portemonnaie hatte, konnte beim Bäcker oder beim Fleischer später zahlen; man gab ihr Kredit.

Wir leben heute in einer Gesellschaft, die bis in den letzten Winkel durchökonomisiert ist

Kredit ist ein Wort, das auch bei David Graeber vorkommt, der ein exzellentes Buch über die Geschichte der Schulden geschrieben hat ("Schulden - Die ersten 5000 Jahre", Klett-Cotta, Stuttgart 2011). Er nennt solche auf Vertrauen basierenden Geschäfte "humane Ökonomien". Bei den Tiv, einer Stammesgesellschaft in Zentralnigeria, zahlt ein Ehemann als Brautablöse an die Familie der Braut Walzähne, Kaurimuscheln oder Vieh. Doch soll mit solch einer Brautablöse keine Schuld bezahlt, sondern im Gegenteil nur ausgedrückt werden, dass eine Schuld besteht, die sich gerade nicht in Geld ausdrücken lässt. Die Vorstellung, dass sich, mit welchen Dingen auch immer, ein Menschenleben aufwiegen lassen könnte, ist einer humanen Ökonomie fremd.

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Graeber stellt in seinem Buch die humane Ökonomie dem heutigen Schuldhandel, den man als eine Verwandlung der Welt in Zahlen sehen kann, gegenüber. Wir leben heute in einer Gesellschaft, die bis in den letzten Winkel durchökonomisiert ist und die ihr Geschick ausschließlich unpersönlichen kommerziellen Märkten überlässt. Es ist eine Gesellschaft, die jegliche Beziehung zum Kreislauf des Lebens verloren hat. Denn ist es nicht so, dass wir alle manchmal, bis hinein in privateste Bereiche, kühl unsere "Marktchancen" berechnen? Gibt es nicht sogar für die persönlichste aller denkbaren Beziehungen, die Liebe, heute einen "Markt"? Und muss sich das nicht letztlich auf unseren Umgang miteinander, unser Denken von der Welt, auswirken - nicht zum Besten, wie anzunehmen ist?

Es würde uns guttun, zweckfreier zu denken

Der Handel mit Nieren aus der dritten Welt floriert und ist nicht verboten! Wer Geld hat, aber kein Kind bekommen kann, darf über eine Leihmutter nachdenken (die nichts anderes sein kann als eine Frau, der nach der Geburt ihr Kind weggenommen wird). Das Fernsehen, auch das öffentlich-rechtliche, ist vollkommen abhängig von Quoten. Und geht nicht sogar der subventionierte Kulturbetrieb nur allzu oft nach Brot, nicht selten gezwungenermaßen, weil die, die ihn subventionieren, sich ja auch über gute Zahlen freuen? Machen wir uns nichts vor, wir stecken bis zum Hals in der Falle des Merkantilismus, und es würde uns guttun, wieder zweckfreier zu denken.

Graeber, das ist in diesem Zusammenhang wichtig, ist von Haus aus Anthropologe. Er dürfte also recht genau wissen, wie der Mensch den aufrechten Gang geübt hat. Den unpersönlichen Märkten, wie sie weithin bestehen, stellt Graeber die humanen Ökonomien gegenüber, welche "die Handlungsmotive der Menschen für höchst komplex" halten. Damit ist nichts anderes gemeint, als die ganz normale Undurchschaubarkeit von Beweggründen. Man weiß nie ganz genau, welche Gefühle jemanden zu einer bestimmten Handlung veranlasst haben. So ist unser Alltag - und humane Ökonomien haben diese Dinge immer mit auf der Rechnung. Ihnen fehlt "die Vorstellung, dass das eigennützigste Motiv zwangsläufig das eigentliche sei".

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Verhaltensforscher haben längst herausgefunden, dass, bei Tieren nicht anders als bei Menschen, die Empathie oftmals stärker ist als der Egoismus. Dass der Mensch vor allem ein egoistisches Wesen ist, ist eine recht veraltete Vorstellung, einigen jedoch immer noch billig genug, um damit die Alternativlosigkeit des Kapitalismus zu begründen. Auch die moderne Philosophie, etwa eines Emmanuel Levinas, spart ethische Fragestellungen nicht aus. Aber der ethische Aspekt entfällt immer dann, wenn es, wie in der Logik unpersönlicher Märkte, möglich wird, einen Nachbarn wie einen Fremden zu behandeln.

Die Menschen, das ist Graebers wichtige Grundannahme, leben in diversen, unendlich komplexen Beziehungsnetzen mit anderen. Und nur dann, wenn man sie aus diesen Netzen herausreißt, ist es möglich, sie auf eine handelbare Sache zu reduzieren. Mithilfe der Technik hat die Moderne komplexe, auf die Spieltheorie zurückgehende Systeme konstruiert, die sich beispielsweise die Finanzbranche schnell zunutze machen konnte. Doch ist das tückische an diesen Systemen, dass sie regelmäßig und klar definiert sind, also gerade nicht mit Abweichungen rechnen, wie sie immer dann, wenn Menschen miteinander interagieren, vorkommen. Ist es nicht erstaunlich, dass unser Glaube an statistische Modelle, ebenso wie unser Vertrauen in die technische "Vollkommenheit", beinahe grenzenlos ist?

Was ist ab wann eine Leistung, die bezahlt werden muss

Wie könnten nun mögliche Wege aussehen, aus dem Glauben an fragile Systeme heraus- und in lebendige Beziehungsnetze wieder hinein zu kommen? Die Arbeitsteilung, wie wir sie von unpersönlichen Märkten kennen, setzt im Grunde die Überwindung von Zeit und Raum voraus. Sie kann nur funktionieren, wenn im großen Stile gehandelt wird - ansonsten würde bald die Nachfrage nicht mehr ausreichen. Diese Überwindung von Zeit und Raum ist aber äußerst ressourcenintensiv: die Äpfel, die wir im Supermarkt kaufen, müssen aus Australien herangekarrt werden, die Lieferketten für viele Waren sind lang und energieintensiv. Wir könnten also fragen, ob es nicht eine Nummer kleiner geht. Beispiele solchen lokalen Handelns gibt es schon heute. Die mancherorts bereits eingeführten regionalen Komplementärwährungen können diese Prozesse durchaus unterstützen, da sie die Wertschöpfungskette verkürzen.

Ein Anfang wäre zudem, das Gewinnstreben in bestimmten Bereichen zu verbieten: Krankenhäuser, öffentlicher Verkehr und Bildung sollten nicht kommerzialisiert werden dürfen. Es ist auch zu fragen, ob es nicht ein staatliches Vorrecht auf Geldschöpfung geben sollte. Und man wird über eine Neudefinition des Arbeitsbegriffs nachdenken müssen. Der Mensch verschwindet immer mehr aus den lebendigen Produktionszusammenhängen, seine Arbeit wird von Automaten übernommen oder in immer mehr Teilaufgaben zerlegt, was zu mangelnder Identifikation mit den Arbeitsprozessen führt. Und ob ein teurer und energiefressender Automat wirklich billiger kommt als eine bezahlte Arbeitskraft, sei einmal dahingestellt.

Was geschieht eigentlich, wenn Arbeit dermaßen abstrakt wird? Was ist ab wann eine Leistung, die bezahlt werden muss (etwa, wenn jemand seine Angehörigen pflegt)? Das sind Fragen, die Modellen wie denen von Leihfirmen und ähnlichen Erfindungen einer neoliberalen Ökonomie, die Lohnkosten von Arbeitnehmern weiter zu drücken, gegenüberstehen. Was die Schulden angeht, so schaue man nach Island. Dort hat es das Volk per Volksentscheid abgelehnt, die Schulden der Banken zu begleichen. Graeber schlägt in seinem Buch einen Weg vor, der uns auf den ersten Blick befremdlich vorkommen mag: "Ein genereller Schuldenerlass wäre nicht nur heilsam, weil er menschliches Leid lindern könnte. Er riefe uns auch in Erinnerung, dass Geld nichts Geheimnisvoll-Unvergleichliches ist und dass das Begleichen von Schulden nicht das Wesen der Sittlichkeit ausmacht."

Volker Sielaff


Volker Sielaff, Lyriker, Kritiker, Kolumnist und Literaturveranstalter, lebt in Dresden. Zuletzt erschien von ihm der Gedichtband "Selbstporträt mit Zwerg", Verlag luxbooks Wiesbaden 2011.
(Der vorliegende Text erschien zuerst in: Sächsische Zeitung v. 12. März 2013)

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