Der Sozialverband Deutschland setzt sich seit über 100 Jahren für soziale Gerechtigkeit und Teilhabe ein. Ein besonders sensibles Feld, das Millionen Menschen betrifft, ist die Pflegeversicherung. Angesichts des demografischen Wandels, steigender Kosten und wachsender Belastungen für Pflegebedürftige wie Angehörige steht hier die Frage im Raum, wie die Pflege in Zukunft solidarisch, finanzierbar und menschlich gestaltet werden kann. Alwin W. Gerlach führt dieses Gespräch über die Rolle des SoVD in diesem Bereich: Welche Aufgaben der Verband bei der Pflegeversicherung übernimmt, wo er Handlungsbedarf sieht, und welche Reformen aus seiner Sicht notwendig sind, um die Pflege in Deutschland nachhaltig zu sichern.

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Wie versteht der SoVD seine Rolle in der Pflegeversicherung – vor allem im Hinblick auf die Interessenvertretung seiner Mitglieder?

Katharina Lorenz: Durch unsere kompetente Beratung im Bereich Pflege sind wir ganz nah dran an den Bedürfnissen unserer Mitglieder und kennen ihre Probleme. Mit unserer politischen Arbeit machen wir uns deshalb für Lösungen stark, die Betroffenen weiterhelfen und ihren Alltag erleichtern.

Wie konkret unterstützt der Verband Pflegebedürftige und ihre Angehörigen im Alltag – etwa bei Anträgen, Widersprüchen oder rechtlicher Durchsetzung?

Wenn man pflegebedürftig wird oder sich um eine*n Angehörige*n kümmern muss, ändert sich vieles: Der Alltag muss neu organisiert werden, oft ist eine Betreuung notwendig und zahllose Anträge müssen ausgefüllt werden. Das überfordert viele. Genau an dieser Stelle hilft der SoVD. Unsere Jurist*innen beraten sehr umfassend, auf welche Leistungen Pflegebedürftige und Angehörige Anspruch haben. Wir klären auf, was beachtet werden muss, wenn der Medizinische Dienst zur Begutachtung kommt. Auch erläutern wir die Pflegegutachten oder was man tun kann, wenn ein Bescheid abgelehnt wurde. Hier führen wir für unsere Mitglieder sowohl Widerspruchs-, als auch Klage- und Berufungsverfahren.

Wie informiert der SoVD seine Mitglieder über ihre Rechte und Möglichkeiten in der Pflegeversicherung?

Nicht nur in unserer Sozialberatung, sondern auch in unserer Mitgliederzeitung sowie auf Social Media informieren wir über Themen aus dem Sozialrecht und zu wichtigen Neuerungen. Zudem bieten wir regelmäßig kostenlose digitale Vorträge auch für Nichtmitglieder an. Für eine erste Orientierung haben wir unsere Broschüre „Plötzlich pflegebedürftig – Das müssen Sie jetzt wissen“ veröffentlicht. Sie gibt einen guten Überblick über die Ansprüche im Bereich der Pflegeversicherung und ist für alle kostenfrei auf unserer Internetseite verfügbar.

Mit welchen Forderungen und Positionen tritt der Verband gegenüber Politik und Öffentlichkeit im Bereich Pflegeversicherung auf?

Im Pflegebereich herrscht Alarmstufe Rot: Egal, ob Pflegebedürftige, ihre Angehörigen oder Menschen, die in der Pflege arbeiten – sie alle haben mit zu hohen Kosten, mangelnden Informationen und viel zu wenig Unterstützung zu kämpfen. Die Probleme sind mittlerweile in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen. Wir als Sozialverband finden deshalb: Jede*r sollte ausreichend Hilfe bekommen und Pflege muss für alle bezahlbar sein. Dafür setzen wir uns ein.

Wie bewerten Sie die politische Debatte um eine mögliche Abschaffung oder Veränderung des Pflegegrads 1?

Menschen mit dem Pflegegrad 1 haben keinen Anspruch auf Pflegegeld, Pflegesachleistungen oder Kurz- und Verhinderungspflege. Von daher gehen wir davon aus, dass die Streichung des Pflegegrads die Pflegeversicherung finanziell nicht retten kann. Aus unserer Beratung wissen wir: Der Pflegegrad 1 und die daraus resultierende Unterstützungsleistungen – Entlastungsbetrag, Pflegehilfsmittel oder Wohnraumanpassung – sind für die Selbstständigkeit der Betroffenen wichtig. Sie sorgen dafür, dass sich der Zustand nicht weiter verschlechtert und im Endeffekt höhere Pflegekosten drohen. Außerdem entlasten die Leistungen pflegende Angehörige, die oft selbst am Limit sind.
Um es deutlich zu sagen: Den Pflegegrad 1 zu streichen, ist eine Schnapsidee. Mit so einem Schnellschuss spart man am falschen Ende. Pflegebedürftige müssen für das Unvermögen der Regierung herhalten, die Pflegeversicherung auf solide Beine zu stellen. Für eine bessere Finanzierung fordern wir die Einführung einer Bürgerversicherung im Pflegebereich, in die alle einzahlen – auch Beamte, Selbstständige und Politiker*innen.

Viele Menschen sorgen sich um steigende Eigenanteile. Welche Reformvorschläge bringt der SoVD hier ein?

In den vergangenen Jahren sind die Kosten für die Unterbringung in einem Pflegeheim exorbitant gestiegen. Bereits jetzt können über 30 Prozent der Heimbewohner*innen nur noch mit Sozialhilfeleistungen die Unterbringung finanzieren. Daher setzen wir uns für eine Pflegevollversicherung ein, die alle Leistungen zur Pflege, Betreuung und Teilhabe umfasst.

Pflegekräfte fehlen überall. Welche Ansätze unterstützt der SoVD, um die Pflegeberufe attraktiver zu machen?

Um eine engagierte und qualitativ hochwertige Pflege zu gewährleisten und dem Fachkräftemangel zu begegnen, müssen professionelle Pflegekräfte sowohl auf gesellschaftlicher als auch auf arbeitsrechtlicher Ebene mehr Unterstützung erhalten. Es braucht attraktivere Arbeitszeitmodelle und Aufstiegschancen sowie bessere Studien- und Fortbildungsangebote.
Um die Attraktivität der Fachausbildung zu erhalten, muss damit eine höhere Verantwortung und Eigenständigkeit in der beruflichen Pflegepraxis einhergehen. Fachkräfte dürfen nicht zu Hilfskräften degradiert werden.

Wo sieht der SoVD die größten Gerechtigkeitsprobleme im bestehenden Pflegesystem?

Pflegebedürftigkeit kann jede*n treffen. Die Absicherung dieses Risikos und die Sicherstellung würdevoller Pflege sind daher gesamtgesellschaftliche Aufgaben. Statt eine unsoziale Zwei-Klassen-Absicherung des Pflegerisikos zu verstärken, muss die Pflegeversicherung langfristig zu einer Pflege-Bürgerversicherung weiterentwickelt werden. Darüber hinaus muss die Beitragsbemessungsgrenze einheitlich auf das in der Rentenversicherung geltende Niveau angehoben werden.

Sind die bestehenden Strukturen überhaupt in der Lage, der alternden Gesellschaft gerecht zu werden?

Zum einen muss die finanzielle Unterstützung der Pflegebedürftigen jährlich angepasst werden, um mit den jeweils aktuellen und realistischen Lebenshaltungskosten Schritt zu halten. Zudem sollten die Leistungen flexibler und einfacher zugänglich gestaltet werden. So können pflegebedürftige Menschen individuell und selbstbestimmt entscheiden, wie sie diese – je nach tatsächlichem Bedarf – für ihre Pflege einsetzen möchten. Zum anderen können Gesundheitsförderung und Prävention Pflegebedürftigkeit entgegenwirken sowie ihr Fortschreiten verhindern oder verlangsamen. Daher müssen gesundheitsförderliche Verhältnisse geschaffen und niedrigschwellige und barrierefreie Angebote in ganz Niedersachsen bereitgestellt werden. Dafür sind insbesondere präventive Hausbesuche geeignet, um frühzeitige Hilfebedarfe zu erkennen und entsprechende Unterstützung zu organisieren. An Präventionsmaßnahmen muss bei hoher Arbeitsbelastung auch schon in der Erwerbsphase, spätestens aber mit Eintritt ins Rentenalter, gedacht werden.

Viele Betroffene klagen über komplizierte Anträge und lange Verfahren. Wie positioniert sich der SoVD dazu?

Der SoVD kritisiert die erheblichen bürokratischen Hürden, mit denen die Leistungsberechtigten konfrontiert werden. Diese gelten als eine der größten Ursachen nicht in Anspruch genommener Leistungen. Für Leistungsberechtigte ist es schwer, die Vielzahl an Sozialleistungen zu überblicken. Der SoVD unterstreicht die Wichtigkeit eines bürgerfreundlicheren Sozialstaats. Dazu muss die Arbeit der Sozialverwaltung mithilfe von Rechtsvereinfachungen, besserem Datenaustausch und modernisierter digitaler Infrastruktur erleichtert werden. Ein besseres Online-Angebot der Sozialverwaltung darf nicht bedeuten, dass der Service vor Ort vernachlässigt wird. Im Gegenteil: Durch ein umfangreiches Online-Angebot können mehr Kapazitäten für die Beratung vor Ort geschaffen werden. Denn der Service vor Ort ist und bleibt für viele Menschen wichtig, zum Beispiel für Menschen, die Vorbehalte gegenüber der Nutzung von digitalen Endgeräten haben.

Welche Unterstützung fordert der Verband für pflegende Angehörige?

Pflegende Angehörige und nahestehende Personen sind durch ihre Tätigkeit oftmals einer hohen psychischen und körperlichen Belastung ausgesetzt. Deshalb benötigen sie eine flächendeckend verlässliche, qualifizierte und aktive Beratung und Begleitung. Die Angebote sind zielgruppengerecht auszugestalten, denn auch rund 480.000 Kinder und Jugendliche pflegen bundesweit Familienmitglieder wie Eltern oder Geschwister.
Damit Pflege von Angehörigen kein Armutsrisiko darstellt, gehört auch eine bessere finanzielle Absicherung der pflegenden Angehörigen dazu – zum Beispiel durch eine bezahlte Pflegezeit.

Wie bewertet der SoVD das aktuelle Begutachtungssystem für Pflegegrade?

Der seit 2017 geltende Pflegebedürftigkeitsbegriff verbessert den Zugang zur Pflegeversicherung für Menschen mit psychischen oder kognitiven Einschränkungen, berücksichtigt jedoch rein körperliche Pflegebedarfe oft unzureichend. Durch die Begutachtungssystematik bleibt viel Interpretationsspielraum, während hauswirtschaftliche Unterstützung oder außerhäusliche Aktivitäten nicht einbezogen werden – obwohl sie häufig zu den ersten Hilfebedarfen zählen. Zudem ist der Begriff stark geriatrisch geprägt: Junge Pflegebedürftige fallen durchs Raster, etwa bei Bedarfen wie Menstruations- oder Wochenbettpflege. Pflegebedürftigkeit betrifft jedoch alle Altersgruppen und erfordert eine alters- und geschlechtsspezifische Differenzierung.

Inwiefern setzt sich der Verband für den Einsatz digitaler Hilfsmittel in der Pflege ein?

Der SoVD befürwortet, dass ein Anspruch auf digitale Pflegeanwendungen besteht. Digitale Pflegeanwendungen können als Ergänzung sehr sinnvoll sein, sollten aber nicht nur der pflegebedürftigen Person dienen, sondern ausdrücklich auch der Entlastung pflegender Angehöriger beziehungsweise ehrenamtlich Pflegender. Der SoVD fordert, dass insbesondere ältere Menschen oder Menschen mit speziellen Bedürfnissen nicht durch zu anspruchsvolle technische Anforderungen abgeschreckt werden. Die Bedienbarkeit muss niedrigschwellig und barrierefrei sein.

Welche Aktivitäten und Kampagnen hat der SoVD zuletzt im Bereich Pflege durchgeführt? Und wie trägt Ihr Verband dazu bei, die Wahrnehmung in der Gesellschaft zu stärken? Pflege ist oft ein Tabuthema.

Das Thema Pflege ist für uns ein wichtiger Schwerpunkt nicht nur im Bereich der Beratung, sondern auch in der täglichen politischen Arbeit – auch im Austausch mit den niedersächsischen Entscheidungsträger*innen. Der SoVD-Landesverband Niedersachsen ist Mitglied der Kap.Ni und Gründungsmitglied der „Woche der pflegenden Angehörigen“. 2023 war Pflege unser Kampagnenthema. Mit vielfältigen Aktionen und Veranstaltungen haben wir auf das Thema aufmerksam gemacht. Zudem haben wir einen vielbeachteten Fachtag durchgeführt – für einen Austausch zwischen Theorie und Praxis von Betroffenen, Politik und Wissenschaft. Mit all diesen Aktivitäten und Kampagnen versuchen wir das Bewusstsein und die Bedeutung für das Thema Pflege zu schärfen.

Wenn Sie einen zentralen Wunsch oder eine Hauptforderung für die Pflegeversicherung der Zukunft formulieren müssten – wie würde diese lauten?

Der SoVD-Landesverband Niedersachsen fordert grundlegende Reformen im Bereich der Pflegeversicherung. Zentrale Punkte sind: Abkehr von der Erwartung kostenloser Angehörigenpflege, rechtliche Verankerung pflegerischer Fachlichkeit, Ausgleich sozialer Bedarfslagen sowie die Einführung einer Pflegevollversicherung.

Erkenntnis
Pflege betrifft uns alle – sei es heute oder morgen. Der SoVD macht deutlich: Würde, Sicherheit und Solidarität dürfen für Pflegebedürftige keine Frage des Geldbeutels sein.
Ein umfangreiches Positionspapier des SoVD-Landesverbands Niedersachsen zum Thema Pflege ist online auf der Internetseite des Verbands veröffentlicht.

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