Als langjährige Führungskraft in der Rückversicherung habe ich miterlebt, wie sich die Branche verändert, welche Kräfte sie steuern und welche Dynamiken in den Beziehungen zwischen Erst- und Rückversicherern wirken. Mein Anliegen ist es, die Strukturen, Abhängigkeiten und Herausforderungen dieser Branche transparent zu machen – nicht nur für Fachleute, sondern auch für ein breiteres Verständnis. Dieser Artikel beleuchtet daher kritisch, aber mit der Erfahrung aus der Praxis, wie Rückversicherer Stabilität schaffen, welche Macht sie ausüben und warum Partnerschaft, Balance und Voraussicht entscheidend für die Zukunft der Branche ist.

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Rückversicherung als Fundament des Marktes

Der Versicherungsmarkt lebt von dem Versprechen, Sicherheit zu schaffen. Hinter den Erstversicherern, die dieses Versprechen direkt an Privatpersonen, Unternehmen und Institutionen geben, agieren jedoch die Rückversicherer. Sie stellen Kapazitäten, übernehmen Risiken und definieren die Regeln, nach denen sich der gesamte Markt bewegt. Damit sind sie nicht nur Finanzpartner, sondern auch die unsichtbaren Architekten der Stabilität.

cms.cjmco.200x300Alwin W. Gerlach arbeitete viele Jahre als Prokurist in der Rückversicherung und kommentiert für Versicherungsbote Trends und aktuelle Entwicklungen in der Versicherungsbranche

Die drei führenden Rückversicherer

Wenn von Rückversicherung die Rede ist, dominieren drei Namen den Markt: Münchener Rück (Munich Re), Swiss Re und Hannover Rück. Gemeinsam vereinen sie jährlich Beitragseinnahmen von weit über 100 Milliarden Euro und verfügen über Eigenkapital in zweistelliger Milliardenhöhe.

  • Swiss Re aus Zürich ist aktuell der Marktführer unter den „top ten“international breit aufgestellt, stark diversifiziert und ein Treiber kapitalmarktnaher Lösungen wie Insurance-Linked Securities.
  • Münchener Rück ist danach einer der größten globalen Player. Sie gilt als besonders konservativ in der Risikosteuerung und zugleich als Vorreiter bei innovativen Deckungen.
  • Hannover Rück gilt als „flexibler Herausforderer“ – kleiner als die beiden anderen, aber mit einer klaren Strategie, schlanker Struktur und hoher Profitabilität.

Diese drei Gesellschaften geben nicht nur den Takt für Preise und Kapazitäten im Rückversicherungsmarkt vor. Sie verkörpern zugleich das Spannungsfeld zwischen Stabilitätsauftrag und Renditeorientierung, das für die gesamte Branche prägend ist.

Partnerschaft auf Basis technischer Fakten

Rückversicherer sind bereit, auf Grundlage technischer Fakten eine partnerschaftliche, langfristige Beziehung zu Erstversicherern aufzubauen.

  • In der Regel werden die Gespräche zunächst auf Vorstandsebene geführt, um Vertrauen und strategische Leitlinien festzulegen.
  • Danach übernehmen Fachabteilungen die Detailarbeit: Risikomodelle, Exponierungsanalysen, Vertragswerke.
  • Das Ziel: faire Konditionen, die Stabilität gewährleisten und zugleich die Wettbewerbsfähigkeit sichern.

Doch diese Balance ist fragil. Der Einkäufer von Rückversicherung auf Seite des Erstversicherers steht unter Druck, die Kosten niedrig zu halten. Der Rückversicherer wiederum hält den Schlüssel in der Hand: die Vergabe von Kapazität.

Macht durch Kapazität und Eigeninteresse

Die Stärke des Rückversicherers liegt in seiner Fähigkeit, Kapazität zuzuweisen – oder zu entziehen. Das ist mehr als ein technischer Vorgang: Es ist die zentrale Stellschraube, um Preise, Marktteilnahme und Risikotragfähigkeit zu steuern.

Gleichzeitig agieren Rückversicherer als kapitalmarktorientierte Gesellschaften:

  • Sie streben Renditen zwischen 3,5 und 5 % an.
  • Sie müssen Dividenden ausschütten und Eigenkapital effizient einsetzen.
  • Sie sind im Wettbewerb um Marktanteile und Wachstum.

Das Eigeninteresse ist unübersehbar. Rückversicherung ist daher nie nur eine „Partnerschaft“, sondern immer auch ein Geschäft mit Renditeanforderungen – und diesen Spagat spüren Erstversicherer ebenso wie deren Kunden.

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Elitäre Treffen – Steuerung zwischen Menschen und Maschinen

Die Rückversicherungsbranche gibt sich diskret, zurückhaltend und elitär. Dies zeigt sich besonders in ihren jährlichen Treffen:

  • Im September in Monte Carlo beim Rendez-Vous de Septembre werden erste Positionen sondiert.
  • Im Oktober in Baden-Baden werden Gespräche konkretisiert und in die Tiefe geführt.
  • Ab Ende Oktober beginnen die endgültigen Prolongationsverhandlungen, in denen Verträge neu abgeschlossen werden.

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Diese Zusammenkünfte sind mehr als Konferenzen: Sie sind Orte des Austausches, des persönlichen Abtastens, der feinen Zwischentöne – dort, wo menschliche Beziehungen und Vertrauen die Verhandlung ebenso prägen wie Zahlen und Modelle.

Doch hier stellt sich die Frage nach der Zukunft: Wird diese Kultur durch Digitalisierung und künstliche Intelligenz verdrängt?

  • Wenn Risikobewertungen zunehmend durch Algorithmen erfolgen,
  • wenn Verhandlungen auf technischer Basis automatisiert vorbereitet werden,
  • wenn persönliche Begegnungen durch distanzierte, faktenbasierte Prozesse ersetzt werden –

dann könnten die weichen Faktoren, die bislang Partnerschaften prägten, verloren gehen. Entmenschlichung würde Verhandlungen härter machen. Entscheidend bleibt aber: Auch wenn Automaten analysieren, müssen am Ende Menschen entscheiden. Die menschliche Dimension bleibt unverzichtbar – gerade um Vertrauen in Zeiten wachsender Unsicherheiten zu bewahren.

Wachstum und seine Grenzen

Rückversicherer definieren Wachstum als strategisches Ziel: mehr Beitragseinnahmen, neue Märkte, neue Risiken. Doch dieses Paradigma stößt an Grenzen:

  • Makroökonomisch durch stagnierende Märkte und steigende Schadeninflation.
  • Risikoexponiert durch den Klimawandel, geopolitische Krisen und systemische Risiken.
  • Technologisch durch neue Gefahren wie Cyberangriffe, die kaum kalkulierbar sind.

Wachstum ist damit nicht unbegrenzt. Auch Diversifizierung und Globalisierung schaffen keine endlosen Expansionspfade. Das Geschäftsmodell muss sich auf die Realität einstellen: Wachstum darf nicht Selbstzweck sein, sondern muss in Resilienz münden.

Das Geschäftsmodell neu denken: Prävention und Verantwortung

Das klassische Geschäftsmodell der Rückversicherer ist die Übernahme von Risiken. Diese Funktion bleibt zentral – doch reicht sie angesichts globaler Unsicherheiten noch aus?

Naturkatastrophen, Umweltzerstörung, politische Konflikte, Kriege, Pandemien und Cyberangriffe zeigen: Risiken lassen sich nicht nur versichern, sie müssen auch präventiv gemanagt werden.

Die Versicherungsbranche – Rück- wie Erstversicherer – wird in Zukunft nicht nur Risiken übernehmen, sondern visionär und vorausdenkend handeln müssen:

  • Prävention fördern: durch Beratung, Risikomanagement und Anreize für schadensvermeidendes Verhalten.
  • Nachhaltigkeit ernst nehmen: sowohl ökologisch in der Zeichnungspolitik als auch sozial im Umgang mit Mitarbeitenden.
  • Humane Unternehmenskultur stärken: Stabilität hängt nicht allein von Kapitalquoten und Modellen ab, sondern vom Engagement und der Motivation der Mitarbeitenden, die den Markt tragen.

Das bedeutet: Die Stabilität des Versicherungsmarktes ist nicht nur eine Frage technischer Fakten, sondern eine Frage von Kultur, Sinn und menschlicher Verantwortung.

Ausblick: Balance für eine stabile Zukunft und Sicherheit

Die Zukunft der Versicherungsbranche wird davon abhängen, wie gut es gelingt, eine Balance zu schaffen:

  • zwischen Partnerschaft und Eigeninteresse,
  • zwischen Rendite und Stabilität,
  • zwischen Technologie und Menschlichkeit.

Das Verhältnis von Rückversicherern, Erstversicherern und deren Kunden muss langfristig gedacht werden – als Teil einer Wertegemeinschaft, die Sicherheit nicht nur als ökonomisches Gut versteht, sondern als gesellschaftliche Aufgabe.

Ob die Branche in der Lage ist, diesen Anspruch zu erfüllen, entscheidet darüber, ob sie in einer Welt wachsender Unsicherheiten Stabilitätsanker bleibt – oder selbst Teil der Unsicherheit wird.

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Nur wenn die Rückversicherer lernen, ihre Renditeziele mit einer vorausschauenden und nachhaltigen Strategie zu verbinden, können sie das bleiben oder werden, was die Gesellschaft am dringendsten braucht: ein verlässlicher Partner in unsicheren Zeiten.

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