Versicherungsbote: Mein Eindruck: Fast alle Parteien, die zur Bundestagswahl 2021 antreten, halten das Rentensystem und die Altersvorsorge für reformbedürftig. Würden Sie für Ihre Partei zustimmen — weshalb muss der Status Quo verändert werden?

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Johannes Vogel: Das deutsche Rentensystem und somit auch die Rentenfinanzen stehen unter großem Druck. Den Druck in diesem Kessel haben Union und SPD durch die rentenpolitischen Maßnahmen in der nun endenden Legislaturperiode sogar noch weiter erhöht. Unsere Rente ist derzeit schlichtweg nicht enkelfit, der demografische Wandel macht dies in der jetzigen Form unmöglich, wenn man nicht immer weiter die Steuerzuschüsse oder Beiträge erhöhen will. Daher müssen wir aktiv werden und die Rente an die neuen Gegebenheiten anpassen.

Welche Elemente im Rentensystem wollen Sie beibehalten, weil Sie sagen: Das hat sich so bewährt?

Das deutsche Rentensystem hat noch immer sinnvolle Pfeiler, die aber so das System nicht mehr tragen können. Die erste Säule müssen wir um moderne Konzepte wie die Gesetzliche Aktienrente erweitern. Und betriebliche und private Vorsorge sind wichtig, können aber deutlich erleichtert und aktienorientierter werden. Unser Vorschlag einer Gesetzlichen Aktienrente sieht vor, dass ein Teil des Beitrages zur ersten Säule in einen öffentlichen Non-Profit-Fonds investiert wird, der im öffentlichen Auftrag von Profis verwaltet wird. Konkret schwebt uns vor, dass jede und jeder Versicherte zum Beispiel zwei Prozent des eigenen Bruttoeinkommens verpflichtend in die Gesetzliche Aktienrente einzahlt, wie in Deutschland üblich, aufgeteilt in Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeitrag.

Wie bewerten Sie die aktuelle Bedrohung durch Altersarmut in Deutschland? Jeder fünfte Deutsche erreicht das Rentenalter nicht und zugleich erwarten ganze Branchen unterdurchschnittliche Rentenansprüche. Droht ein Gerechtigkeitsdefizit – wenn ja, wie kann gegengesteuert werden?

Altersarmut ist ein Problem. Und das beste Mittel gegen Altersarmut ist und bleibt ein starke Wirtschaft. Das heißt auch: gute Möglichkeiten für Weiterbildung und beruflichen Aufstieg, die allen Menschen einen guten Job mit guter Bezahlung sowie die Chance, sich selbst zu verwirklichen, bieten. Um Altersarmut auch für schwierige Biographien zu reduzieren, haben wir im Laufe der Legislaturperiode zudem unsere Basis-Rente vorgestellt. Nach unserer Überzeugung muss gelten: Wer gearbeitet und eingezahlt hat, muss im Alter immer mehr haben als die Grundsicherung – und somit mehr als derjenige, der das nicht getan hat. Gleichzeitig werden mit der Basis-Rente keine ordnungspolitischen Probleme wie etwa die Abkehr vom Äquivalenzprinzip in der Rentenversicherung oder der Zweckentfremdung von Beitragsgeldern für versicherungsfremde Leistungen aufgeworfen, wie dies bei der Grundrente der Fall ist. Im Ergebnis sorgen wir durch unsere Basis-Rente dafür, dass alle sicher immer mehr haben als die Grundsicherung, wenn sie in die Rente eingezahlt und/oder vorgesorgt haben. Das erreichen wir durch einen Freibetrag bei der Grundsicherung im Alter für Einkünfte aus der gesetzlichen Rentenversicherung. Wir schlagen einen Freibeitrag in Höhe von 20 Prozent der Rentenansprüche vor. Zudem sollen Beantragung und Auszahlung der Basis-Rente unter dem Dach der Rentenversicherung zusammengeführt werden, damit der Gang zum Sozialamt zukünftig entfällt.

Mehrere Wirtschaftsforschungsinstitute, u.a. das DIW Berlin, plädieren dafür, die Regelaltersgrenze in der gesetzlichen Rente an die steigende Lebenserwartung anzupassen. Die Begründung: immer mehr Rentnerinnen und Rentner stehen weniger Erwerbspersonen gegenüber. Werden die Deutschen künftig länger arbeiten müssen? Wenn nein: Was wären Alternativen, um eine längere Lebensarbeitszeit abzuwenden und dennoch den Rentenbeitrag stabil zu halten?

Ich möchte nicht, dass alle Deutschen länger arbeiten müssen – aber sie sollen es können, wenn sie wollen. Kern eines neuen, modernen Rentensystems muss ein flexibler Renteneintritt nach skandinavischem Vorbild sein, der es jedem und jeder einzelnen überlässt, wann er oder sie in Rente gehen will. Unsere nordischen Nachbarn zeigen uns, dass sich so auch ein neuer gesellschaftlicher Konsens über die Streitfrage Renteneintrittsalter erreichen lässt und, dass die Menschen, wenn sie selbst entscheiden können, im Schnitt sogar länger arbeiten wollen.

Wer unabhängig davon nicht will, dass aus Gründen der Demografie nach 2025 – bei gleichzeitig sinkendem Rentenniveau – Schritt für Schritt die Beiträge explodieren, der Steuerzuschuss von heute schon über 100 Milliarden in Richtung Hälfte des Bundeshaushaltes steigt oder alle bis 70 und länger arbeiten müssen, muss erklären, wie das gehen soll. Im Gegensatz zu Union, SPD und Grünen haben wir ein Konzept vorgelegt, das nicht nur bis zum Ende der Legislaturperiode, sondern für die kommenden Jahrzehnte funktioniert: Die Gesetzliche Aktienrente nach schwedischem Vorbild.

Wie positioniert sich Ihre Partei zu einer Altersvorsorge-Pflicht für Selbstständige – und wie könnte diese gestaltet sein? Mindestens 700.000 Selbständige sorgen nicht für ihr Alter vor, so eine DIW-Studie. Dennoch haben diese Menschen im Alter Anrecht auf Grundsicherung und werden mit Steuergeldern aufgefangen.

Die DIW-Studie hat vor allem gezeigt, dass die Mehrzahl der Selbständigen sehr wohl fürs das Alter vorsorgen, die sollten nicht ständig als „prekär“ gebrandmarkt werden. Dennoch ist es richtig, dass Selbstständige für das Alter vorsorgen müssen, wenn sie gleichzeitig endlich auch auf anderen Feldern nicht länger als Erwerbstätige zweiter Klasse behandelt werden. Aber wie sie vorsorgen, sollen sie bitte selbst entscheiden können. Selbstständige treffen jeden Tag so viele wichtige unternehmerische Entscheidungen, da können sie auch über ihre eigene finanzielle Vorsorge am besten selbst entscheiden.

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Die Fragen stellte Mirko Wenig. Teil 2 des Interviews mit dem Schwerpunkt private Altersvorsorge lesen Sie in wenigen Tagen.

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