Bernd Raffelhüschen, Professor an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und an der Universität im norwegischen Bergen, ist für kontroverse Thesen bekannt. Denn der Wissenschaftler verhilft seinen Positionen gern durch Polemik zur Aufmerksamkeit. So auch in einem Vortrag, den der Wirtschaftsliberale aktuell für eine Jahrestagung der Deutschen Aktuarvereinigung (DAV) verfasste. Thema ist eine gerechte Reform der Alterssicherung vor dem Hintergrund des demografischen Wandels.

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Und sowohl die Generation der Babyboomer als auch Politiker nach Bundeskanzler Gerhard Schröder kommen im Urteil des Professors schlecht weg. Denn die Babyboomer hätten die jetzigen Probleme aus seiner Sicht verursacht. Hingegen verteilt die Politik systemfremde Wahlgeschenke und verschärft dadurch die Krise der umlagefinanzierten Rente.

Die „Lamentierenden" liegen „falsch"

Raffelhüschen schreibt: „Die geburtenstarken Jahrgänge lamentieren zwar immer eingehender über ihr Alterssicherungsproblem, liegen damit aber völlig falsch. Sie haben nämlich kein Problem – sie sind das Problem für ihre Kinder.“ Hätten doch ausgerechnet jene, die zahlenmäßig so viele sind, zu wenig Nachwuchs in die Welt gesetzt für funktionierende Sicherungssysteme – und tragen dadurch direkte Schuld am Ungleichgewicht des Rentensystems.

Die Babyboomer sind daher „als Verursacher dafür verantwortlich, ihre wenigen Kinder in die Lage zu versetzen, den Generationenvertrag einzuhalten“.

Nachhaltigkeitslücke von 93 Prozent des BIP

Sollen trotz demografischem Wandel jetzige Bedingungen der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) gleich bleiben, hätten für kommende Generationen hohe Rücklagen gebildet werden müssen. Die entstandene „Hypothek“ berechnet Raffelhüschen aus der Differenz a) des Barwerts aller zukünftigen Ausgaben und b) der Beitragseinnahmen – und zwar unter der Annahme, dass sowohl Beitragssatz als auch Rentenniveau der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) konstant bleiben. Unter Berücksichtigung aller demografischen Vorhersagen ergibt die Rechnung eine „Nachhaltigkeitslücke“ für kommende Generationen von 93 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (für 2020 wären dies rund 3.102,7 Milliarden Euro) – diese Summe hätte schon jetzt zurückgelegt werden müssen, um demografische Effekte auszugleichen.

Doppelte Haltelinie: Nur durch Not haltbar

Zur Erinnerung: Bis zum Jahr 2025 sichert der Gesetzgeber eine „doppelte Haltelinie für den Rentenbeitrag und das Rentenniveau“: Der Brutto-Beitrag, den Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam zur Rentenversicherung zahlen müssen, wird garantiert bei maximal 20 Prozent des Bruttoeinkommens. Das Rentenniveau und damit das Verhältnis einer durchschnittlich verfügbaren Rente zum Durchschnittslohn wird zudem stabilisiert bzw. eingefroren bei 48 Prozent.

Schon jetzt aber lässt sich eine solche Haltelinie nur mit Mühe sichern: Durch immer mehr Rentnerinnen und Rentner ist die Finanzbelastung bereits ab 2020 deutlich gestiegen. Und schon jetzt lässt sich die Mehrbelastung nur durch Finanzreserven aus der Rentenkasse abfedern. Im Jahr 2025 greift dann erstmals die Beitragssatzgarantie – zusätzliche Mittel in Höhe von knapp zwei Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt werden nötig, damit das Ziel tatsächlich gehalten werden kann. Hierfür wurde ein Fonds aus Steuermitteln eingerichtet. Doch diese zwei Milliarden Euro sind nicht alles, was aus dem Bundeshaushalt fließt. Stattdessen wurde zu Beginn 2020 mit einem Zuschuss für das Jahr in Höhe von 101,76 Milliarden Euro spekuliert (Versicherungsbote berichtete).

Wohlgemerkt: Das Rentenpaket mit „doppelter Haltelinie“ stammt aus dem Jahre 2018 – damals aber war die Rekord-Neuverschuldung des Bundes aufgrund der Corona-Pandemie noch gar nicht absehbar. Der geschätzte Zuschuss von 101,76 Milliarden Euro für 2020 war ebenfalls der Stand vor Corona. Es gibt also guten Grund zur Sorge: Denn ob der Gesetzgeber für die Zeit nach 2025 erneut eine Lösung findet, das Rentenniveau „einzufrieren“, kann bezweifelt werden.

Beiträge rauf oder Rentenniveau runter?

Was aber ist nun zu tun? Zwei Dinge stehen zunächst zur Wahl, wenn man das demografisch bedingte Ungleichgewicht ausgleichen will: Man kann die Rentenbeiträge heraufsetzen oder das Rentenniveau und damit die Renten mindern. Für Raffelhüschen führt an sinkenden Renten aber kein Weg vorbei.

Vorausgesetzt: Durch ein Absenken des Rentenniveaus droht zwar Altersarmut für breite Teile der Bevölkerung. So ergab schon eine Studie der Bertelsmann-Stiftung: Ende der 2030er Jahre haben 21,6 Prozent aller Rentner weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens der Gesamtbevölkerung zur Verfügung. Beim Medianeinkommen werden Spitzen- aber auch Niedrigverdiener herausgerechnet, um den genauen Mittelwert der Einkommen einer Gesellschaft zu errechnen. Weil das Medianeinkommen gegenüber dem Durchschnittseinkommen als aussagekräftiger gilt, dient es zur Berechnung der Armutsgefährdung (Versicherungsbote berichtete).

Auch mit Blick auf das Rentenniveau errechnete die Stiftung Besorgniserregendes: bei 46,3 Prozent statt bei 48 Prozent würde es in 2029 liegen und später sogar auf 42,6 Prozent sinken.
Für Raffelhüschen aber ist es ein Gebot der Generationengerechtigkeit, dass ins Rentenalter gekommene Babyboomer auch solche Konsequenzen ihres fehlenden Nachwuchses tragen. Sinkende Renten sind für ihn schlicht das gerechtere Übel.

Lob für Riester-Reform und Agenda 2010

So lobt er auch die „Riester-Reform“ aus dem Jahr 2001: Diese hatte dafür gesorgt, dass nicht länger Zielvorgaben der Rentenhöhe maßgebend sind für die Rentenpolitik der gesetzlichen Rentenversicherung, sondern langfristig stabile Beiträge. Die Rechnung für Generationengerechtigkeit wirkt einfach: Ein Fünftel des Lohnes gaben bisher die Babyboomer für die Rentnergeneration. Warum also sollen plötzlich die nachkommenden Generationen mehr als ein Viertel ihres Lohns im Umlageverfahren für die ins Rentenalter gekommenen Babyboomer abgeben?

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Bei steigenden Beiträgen droht deswegen laut Raffelhüschen ein massives Akzeptanzproblem. Die Gefahr ist real: Die Politik könnte versuchen, die zunehmende Zahl älterer Wähler durch Leistungsversprechen beim Rentenniveau zu ködern. Jedoch: Sie würde damit die Akzeptanz jener Beitragszahler riskieren, „deren interne Ertragssätze aus den Beitragszahlungen aller Voraussicht nach deutlich im negativen Bereich liegen“. Sogar eine Aufkündigung des Generationenvertrags droht aus Sicht des Experten. Wer könne, der würde sich durch den Gang in die Selbstständigkeit oder sogar durch den Gang ins Ausland dem System entziehen (Raffelhüschen meint hier insbesondere die hochgebildeten akademischen Fachkräfte).

Grundrente und doppelte Haltelinie gehörten abgeschafft

Ein Teil der derzeitigen Rentenmisere ist aus Sicht des Freiburger Experten auch durch eine Zurücknahme von Schröders Agenda-Politik entstanden – das Problem verkörpert sich in Grundrente, Rente mit 63 und doppelter Haltelinie. Denn mit Stand 2007 hätte es Gerhard Schröder durch seine Reformen fast geschafft, dass „die Nachhaltigkeit der GVR gegeben“ war. Dann aber wäre Rückschritt um Rückschritt erfolgt, um die Probleme erneut zu verschärfen – als Schuldige benennt Raffelhüschen die SPD-Arbeitsminister Olaf Scholz und Hubertus Heil sowie Arbeitsministerin Andrea Nahles. Ihnen wirft der Wirtschaftsliberale „rentenpolitische Wahlgeschenke und systemwidrige Weichenstellungen“ vor.

Länger arbeiten gemäß Sterbetafel

Der Schaden wäre derart groß, dass eine Rückkehr zu Schröders Agenda-Politik auch nicht ausreichend wäre. Stattdessen fordert Raffelhüschen die „Einführung eines Lebenserwartungsfaktors, der das gesetzliche Renteneintrittsalter nach 2030 an die Entwicklung der Lebenserwartung koppelt“. Statt einer „Rente mit 67“ soll es also ein noch höheres Renteneintrittsalter regeln, das statistisch stets neu an die steigende Lebenserwartung angepasst wird. Und statt einer Rente mit 63 soll es spürbare, sprich: ausreichend hohe Abschläge für alle geben, die eher in Rente wollen. Ob dies eine wirklich gerechte Lösung für alle wäre, ist allerdings umstritten: Schon nach jetzigem Stand erlebt jeder Fünfte das Renteneintrittsalter nicht mehr. Und überproportional davon betroffen sind nicht die kinderarmen Akademikerhaushalte, sondern insbesondere Männer, die schwere körperliche Arbeit verrichten (Versicherungsbote berichtete).

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Kinder sollen belohnt werden

Zur Stärkung der „intragenerativen Gleichbehandlung“ schlägt Raffelhüschen zudem vor, die „individuelle Fertilität“ zu bedenken. So sollen sich Kinder positiv bei Berechnung der Rentenansprüche oder bei Höhe der Beiträge auswirken. Wenige oder keine Kinder hingegen dürfen ruhig kosten: Kinderlose oder Ein-Kind-Familien könnten alternativ höher besteuert werden.

Freiheit für die kapitalgedeckte Altersvorsorge

Ganz wirtschaftsliberal, setzt Raffelhüschen zu guter Letzt auf die Stärkung der kapitalgedeckten Altersvorsorge durch Abbau gesetzlicher Vorgaben. Würden doch restriktive Anlagerichtlinien zur „recht einseitigen Allokation der Refinanzierungsstrukturen des Finanzsektors in reine Staats- und sonstige Anleihen“ führen, deren Quote „oft bei über 90 Prozent liegt und deren Ertrag im Niedrigzinsumfeld quasi gleich null ist.“ Raffelhüschen pointiert: „Von einer wirklichen Kapitaldeckung, die diversifiziert in Unternehmensanteile, Immobilien und Infrastruktur investiert“, sei die Realität in Deutschland „weit entfernt“. Stattdessen sei die ersetzende Altersvorsorge eher „ein verbrieftes Umlageverfahren“ geworden. Hier solle der Gesetzgeber „mehr Freiheiten zur echten Diversifikation gewähren“.

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