Sigrid König: Unser Gesundheitssystem ist aktuell so gestrickt, dass es viele Anreize für Medizinerinnen und Mediziner setzt, den Menschen zu reparieren statt mehr auf Eigenverantwortung und die Selbstwirksamkeit zu setzen. Eine Operation bringt dem Medizinbetrieb deutlich mehr Geld als ein aufklärendes Gespräch, das zum Beispiel eine Patientin zur Verhaltensänderung einlädt. Hier ist ganz viel an Aufklärung und auch Transparenz notwendig. Viele Betroffene wissen oft gar nicht, dass konservative Behandlungen langfristig wirksamer sein können als der schnelle Griff zum Skalpell.

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Mit der Bundestagswahl könnte – im Falle eines Wahlsieges von rot-rot-grün – auch das Thema Bürgerversicherung wieder auf die Agenda kommen, wonach Privatversicherer nur noch Zusatzversicherungen anbieten dürfen. Würden Sie eine solche begrüßen? Was wären Vor- und Nachteile?

Die PKV hat einen verfassungsrechtlichen Schutz, der so einfach nicht zu kippen ist. Deshalb ist viel interessanter, wie sich Versicherungen halten, wenn die Menschen ein echtes Wahlrecht haben. Da geht der Stadtstaat Hamburg einen neuen Weg und lässt seine Beamten die Art ihrer Krankenversicherung wählen. Wenn es dieses Wahlrecht für alle Beamten gäbe, würde der Wettbewerb zeigen, wie sich die Versicherungssysteme entwickeln. Auch das Wahlrecht für die GKV könnte vergrößert werden.

In diesem Jahr ist Bundestagswahl. Welchen Reformen im Gesundheitssystem müsste die neue Bundesregierung aus Ihrer Sicht zuerst angehen? Wo sehen Sie aktuell Handlungsbedarf?

Sicherlich braucht es eine grundsätzliche Reform des stationären Bereichs. Sektorenübergreifende Lösungen sollten endlich Einzug in die Praxis halten. Ärztliche Gespräche sollten eine andere Kultur und eine andere Bezahlung erhalten. Die Krankenkassen sollten umfassende Beratungsrechte erhalten. Die ganzheitliche Betrachtung der Gesundheit der Menschen sollte angegangen werden. Bei chronischen Krankheiten sollte die Maschinenmedizin um eine stressabbauende psychosoziale Betrachtungsweise ergänzt oder sogar ersetzt werden.

Ein möglicher Reformvorschlag: Rainer Schlegel, Präsident des Bundessozialgerichts, fordert, dass die gesetzliche Krankenversicherung komplett aus Steuermitteln finanziert wird statt aus Beiträgen. Ohnehin handle es sich bei der Finanzierung um ein Mischsystem, das würde speziell den Faktor Arbeit bei den Lohnnebenkosten entlasten. Ein realistischer Vorschlag?

Dieser Vorschlag müsste erst einmal bis zum Ende durchdacht werden. Das ist er derzeit keineswegs. Die Frage ist beispielsweise, ob aus Staatsfinanzierung dann auch Staatsmedizin wird und ob wir das alles wollen. Entscheidend ist doch, dass wir ein finanziell stabiles System haben. Wir sehen ja aktuell in der Corona-Krise, wie schnell und volatil der Staat agiert, wenn es um die Finanzierung unvorhersehbarer Pandemieleistungen geht.

2020 trat erstmals eine Reform des Risikostrukturausgleichs (Morbi-RSA) in Kraft. Dieser Strukturausgleich soll bewirken, dass Kassen mit vielen älteren und kranken Patienten mehr Geld aus dem Gesundheitsfonds erhalten, weil sie höhere Gesundheitskosten haben. Immer wieder kam aber Kritik von Betriebs- und Innungskrankenkassen, dieses Instrument hätte den Ortskrankenkassen einen Wettbewerbsvorteil verschafft. Für Außenstehende ist das Thema mitunter schwer nachzuvollziehen. Können Sie kurz umreißen: Worin bestand diese Wettbewerbsverzerrung? Und hat die Reform für mehr Gerechtigkeit gesorgt?

Kurz gesagt folgen die Geldflüsse aus dem Gesundheitsfonds der dort gemeldeten Morbidität. Deshalb wurden in der Vergangenheit viele fragwürdige Maßnahmen ergriffen, um die gemeldeten Krankheiten in die Höhe zu treiben. Zudem haben wir Kostenunterschiede in der Versorgung. Städtische Gebiete sind durchweg teuer. Damit war es attraktiv, um Versicherte auf dem Land zu werben. Und so gab es noch viele andere Punkte. Wettbewerbsverzerrungen haben wir leider immer noch. Aber die Reform hat einige schwerwiegende Problemstellen beseitigt, die zukünftig wirken sollen.

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Die Fragen stellte Mirko Wenig

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