PSGII: Aus Pflegestufen wurden Pflegegrade 



Mit dem am 13. November 2015 im Bundestag beschlossenen Zweiten Pflegestärkungsgesetz (PSG II) leitete die Bundesregierung einen überfälligen Paradigmenwechsel ein. Nicht nur wurde durch Änderung von Paragraph 14 des 11. Sozialgesetzbuchs (SGB XI) ein neuer Pflegebedürftigkeit-Begriff festgeschrieben, der psychiatrische und psychische Beeinträchtigungen stärker berücksichtigt als bisher. Weitreichender noch war die Umstellung der drei Pflegestufen (oder vier Pflegestufen mit der „Pflegestufe 0“) auf fünf Pflegegrade seit dem 01. Januar 2017.


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Diese Änderung reagierte auf die häufig geäußerte Kritik, die alten Pflegestufen würden zu einer „Begutachtung nach Minute“ führen. Denn die alten Pflegestufen ermittelten sich nach dem Zeitaufwand der Pflege: 


  • Pflegestufe 0 legte Leistungen fest für Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz. 

  • Pflegestufe 1 bedeutete erhebliche Pflegebedürftigkeit mit einem Gesamtbedarf von bis zu 90 Minuten pro Tag; 

  • Pflegestufe 2 bedeutete Schwerpflegebedürftigkeit mit einem Gesamtbedarf von mindestens 180 Minuten pro Tag; 

  • Pflegestufe 3 bedeutete Schwerstpflegebedürftigkeit mit einem Gesamtbedarf von mindestens 300 Minuten pro Tag und festgelegtem nächtlichen Hilfebedarf.


Zum Pflegebedarf wurde zusätzlich eine bestimmte Zeit vorgegebenen, die ausschließlich der Grundpflege zu gelten hatte (bei Pflegestufe drei zum Beispiel vier Stunden am Tag). Diese Beurteilung ging von der Illusion aus, der Aufwand der Pflege ließe sich auf die Minute genau messen. 


Die Ausrichtung der alten Pflegestufen: Das "Waschen, Windeln, Füttern" 



Dem Begutachtungsverfahren durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung lag eine Liste von 13 Funktionsstörungen zugrunde – jedoch mit eindeutigem Schwerpunkt auf körperliche Beeinträchtigungen. Die zu ermittelnden „Zeitkorridore“ für die Bereiche Körperpflege, Ernährung und Mobilität zeigen deutlich den Schwerpunkt der bis 2017 geltenden Vorstellung von „Pflegebedürftigkeit“ beim Waschen, dem Essen und dem Toilettengang. Gerontologen mahnten schon lange eine Änderung dieser Begutachtungsmethodik an – seit Leistungen aus der Pflegeversicherung mit dem so genannten Pflege-Versicherungsgesetz (PflegeVG) in zwei Schritten möglich wurden (seit 1. April 1995 für häusliche und seit 1. Juli 1996 für stationäre Pflege), wurde immer wieder Kritik am Verfahren geübt.


Der Paradigmenwechsel durch die Pflegestärkungsgesetze aber zeigte nun spätestens mit Einleitung der Gesetzreform, dass sich Missstände der Pflegeversicherung in Zeiten des demografischen Wandels nicht länger ignorieren lassen.


Das Ziel der Reform: Schluss-Machen mit dem Stechuhr-Prinzip


So sollte nun endlich Schluss sein mit einer Ermittlung der Pflegebedürftigkeit unter dem Diktat der Uhr. Stattdessen setzt sich das neue Verfahren zum Ziel, den Grad der Einschränkung eines Menschen zu ermitteln. Sechs so genannte Module werden hierbei bedacht gemäß Anlage 1 zu Paragraph 15 des SGB XI:


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  • Modul 1 Mobilität;

  • Modul 2 kognitive und kommunikative Fähigkeiten;

  • Modul 3 Verhaltensweisen und psychische Problemlagen;

  • Modul 4 Selbstversorgung;

  • Modul 5 Bewältigung und selbstständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen;

  • Modul 6 Gestaltung des Alltagslebens und soziale Kontakte.

Jedem dieser Module werden Kriterien zugeordnet. Insgesamt definiert das Verfahren 64 dieser Kriterien über alle 6 Module hinweg.

Körperliche Beeinträchtigungen dominieren noch immer die Gewichtung

Für die 64 Kriterien werden wiederum Punkte vergeben, die abbilden sollen, wie beeinträchtigt die beurteilte Person ist. Die Punktwerte ermitteln in der Summe den Grad der Pflegebedürftigkeit je Modul. Jedoch: Die Module fließen nicht gleichwertig bei der Ermittlung der fünf Pflegegrade ein, werden stattdessen unterschiedlich gewichtet. Stärkstes Gewicht erhält Modul 4 – die Selbstversorgung – die mit 40 Prozent in die Vergabe der Pflegegrade eingeht. Da dieses Modul Kriterien wie „Essen“ und „Trinken“ oder Kriterien für Körperpflege und Toilettengang enthält, dominieren noch immer körperliche Beeinträchtigungen auch die Vergabe der Pflegegrade.

Jedoch: Durch Hinzutreten weiterer Kriterien und Module berücksichtigt das Verfahren nun auch andere Faktoren des Pflegeaufwands. Mit 20 Prozent auf Rang zwei der Gewichtung steht das Modul Bewältigung und selbstständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen. Zudem werden mit jeweils 15 Prozent die Module kognitive und kommunikative Fähigkeiten, Verhaltensweisen und psychische Problemlagen sowie Gestaltung des Alltagslebens gewichtet. Die Mobilität findet mit 10 Prozent Eingang ins Verfahren.


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Die neuen Pflegegrade


Aufgrund der Gewichtung werden Punktwerte aus den einzelnen Modulen jedoch nicht eins zu eins für die Ermittlung der Pflegegrade übernommen, sondern in neue Werte übersetzt. Die Summe der gewichteten Ergebnisse bildet nun den Grad der Pflegebedürftigkeit ab:


  • Bei geringen Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten gibt es Pflegegrad 1 (ab 12,5 bis unter 27 Gesamtpunkten);

  • bei erheblichen Beeinträchtigungen gibt es Pflegegrad 2 (ab 27 bis unter 47,5 Gesamtpunkten);

  • bei schweren Beeinträchtigungen gibt es Pflegegrad 3 (ab 47,5 bis unter 70 Gesamtpunkten);
  • bei schwersten Beeinträchtigungen gibt es Pflegegrad 4 (ab 70 bis unter 90 Gesamtpunkten);

  • bei schwersten Beeinträchtigungen mit besonderen Anforderungen an die pflegerische Versorgung gibt es Pflegegrad 5 (ab 90 bis 100 Gesamtpunkten).

Nicht alle könnten zukünftig durch die Reform profitieren

Wie aber äußern sich nun Veränderungen des Zweiten Pflegestärkungsgesetzes in der Praxis? Wer sich hierüber Aufklärung verspricht, muss sich bescheiden lassen: Für eine Einordnung, wie viele Leistungsempfänger in Zukunft tatsächlich von der Umstellung profitieren, ist es schlicht noch zu früh. Die Bundesregierung selber musste dies zugeben in einer Antwort auf eine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen – und verwies auf ausstehende Ergebnisse einer Evaluation (siehe Drucksache 18/13582).

Keineswegs aber bedeutet das PSG II für alle Pflegebedürftigen eine Verbesserung. Denn zwar profitieren nun von Demenz betroffene Menschen oder Pflegebedürftige mit geistigen Beeinträchtigungen. Zugleich können Veränderungen auf längere Frist aber auch Verlierer der Reformen produzieren. Das veranschaulichte ein Beitrag des ZDF-Magazins PlusMinus: Ein Schlaganfall-Patient zum Beispiel, der nicht bereits vor dem 01. Januar 2017 als pflegebedürftig galt und demnach nicht von den großzügigen Umgradungs-Regelungen profitiert, erhält unter bestimmten Bedingungen (Angewiesen-Sein auf Hilfe beim Toilettengang) rund 30 Prozent weniger, als er vor der Reform mit Pflegestufe 2 erhalten hätte (der Versicherungsbote berichtete).

Derzeit jedoch scheint es noch zu früh, solche Auswirkungen der Reform auf das Gesamtfeld der Pflegebedürftigen zu beurteilen. Denn der aktuelle Stand sagt mehr über die großzügigen Übergangs-Regelungen aus als darüber, wie sich in Zukunft die Verteilung nach Pflegegraden entwickeln wird. Die Regelungen sollten garantieren, dass niemand, der bereits eine Pflegestufe besaß, durch das neue Gesetz schlechter gestellt wird.

Wer zum Beispiel Pflegestufe 1 hatte, rutsche automatisch in Pflegegrad 2. Hatte ein Patient Pflegestufe 1 und Demenz, rutschte er sogar zwei Grade höher in Pflegestufe drei. Diese sogenannten Überleitungsfälle machen mit Stand vom 31.12.2018 laut Bundesgesundheitsministerium (BMG) noch 43,3 Prozent aller ambulant betreuten Leistungsbezieher in der sozialen Pflegeversicherung sowie sogar 63,0 Prozent aller stationär betreuten Leistungsbezieher aus.

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In Zukunft dürfte sich jedoch die Verteilung nach Pflegegraden zum Schlechten des Gesamtfeldes ändern – dann nämlich profitieren die neu eingestuften Leistungsempfänger nicht mehr vom Übergang. Zahlen für den aktuellen Stand und ein Vergleich mit dem Stand vor der Reform stellt der Versicherungsbote in einem weiteren Artikel vor.

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