Versicherungsbote: Die Digitalisierung in der Versicherungsbranche ist in aller Munde – aber warum muss überhaupt investiert werden?

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Stephen Voss: In Deutschland, wie in vielen anderen europäischen Ländern auch, haben wir eine über Jahrzehnte – zum Teil sogar über mehr als 100 Jahre – gewachsene Versicherungsindustrie. Der Spruch „Das haben wir schon immer so gemacht. Das ist gut so“ kommt also auch hierzulande zur Anwendung. Zu dieser gelebten Tradition gesellen sich dann noch gewachsene Systeme und Prozesse, die über Jahre hinweg abgeschlossen von der Außenwelt entwickelt und gepflegt wurden. Daran war einen langen Zeitraum auch gar nichts falsch, denn die Organisationen haben gelebt, die Belegschaft hat im Rahmen ihrer Strukturen gearbeitet, das System hat funktioniert. Nun befinden wir uns aber spätestens seit Einführung des ersten iPhones im Jahr 2008 im Zeitalter des Smartphones und der damit verbundenen, permanenten mobilen Verfügbarkeit von Informationen.

Ein proprietäres System, das nur innerhalb der Unternehmensmauern und der eigenen IT-Infrastruktur funktioniert, stößt dadurch nun unweigerlich an seine Grenzen. Daher ist die Antwort mit Blick auf die Versicherungsbranche klar: Um den gestiegenen Ansprüchen der Kunden genüge zu tun, muss in „mobile-ready“-Systeme investiert werden. Schnittstellen zum Datenaustausch müssen geschaffen werden, aber auch die Organisation und die Prozesse müssen zwingend an die immer schnelleren Informationszyklen angepasst werden. Oder andersherum: Ein Kunde, der heute eine Email an den Versicherer schreibt, erwartet spätestens innerhalb eines Werktages eine Rückmeldung – und nicht erst 14 Tage später einen Brief.

Wo genau muss investiert werden und welche Fehler müssen Versicherer vermeiden, um nicht in das falsche Projekt zu investieren?

Zunächst einmal ist es gut und wichtig, dass die Notwendigkeit zur Investition im Markt erkannt wurde. Und es gibt mit Sicherheit keinen allgemeingültigen Königsweg. Wie bereits beschrieben, sind die Unternehmen über Jahrzehnte mit ihrer IT gewachsen – darüber kann man nicht mal schnell nach einem vorgefertigten Schema eine digitale Struktur legen. Gerade deshalb gilt es, Fallstricke zu vermeiden. Zumal der vermeintlich einfachste Weg schnell ein Schuss in den Ofen werden kann. Denn mancherorts wird die Digitalisierung wie ein technisches IT-Projekt geführt, in anderen Unternehmen ist sie ein Vertriebsprojekt. In beiden skizzierten Fällen wird eine erste Schwachstelle sofort deutlich: Digitalisierung ist kein Inselprojekt eines einzelnen Bereichs oder einer einzelnen Abteilung, es ist eine Gesamtaufgabe für das Unternehmen. Sie muss die gesamte Organisation miteinbeziehen.

Ein Beispiel: Natürlich ist es verlockend, dem Vertrieb und damit dem Kunden eine digitale mobilfähige App an die Hand zu geben, um die wesentlichsten Themen rund um den Vertrag bedienen zu können. Allerdings ist eine App nur das Interface, ein Einfallstor in die Systeme des Versicherers. Wenn dahinter nicht die Dienstleistungen und Prozesse auf das neue Interface angepasst sind, wird es eng. Denn was nützt dem Kunden bzw. dem Unternehmen eine Schadenerfassung über die App, wenn das System die digital erfassten Daten im Host System (also dem Kernsystem des Unternehmens) gar nicht so detailliert erfassen und verarbeiten kann – und der Schaden nicht automatisiert angelegt, sondern manuell einem Sachbearbeiter zugewiesen und so analog bearbeitet wird, wie es das System und die Organisation hergibt? Der Kunde wird schnell merken, dass das, was vorne schnell reinging, hinten nicht schnell rauskommt. Wenn dann noch eine weitere Instanz dazwischen ist, beispielsweise ein Vermittler, wird es noch komplexer. Denn idealerweise sollte auch dieser beteiligte Dritte die für ihn – und nur für ihn – relevanten Informationen bekommen. Und zwar zeitgleich. Das geht in den meisten Fällen bei vielen Unternehmen noch nicht.

Heißt das, es wird Geld verbrannt und auf das falsche Pferd gesetzt?

So pauschal kann man die Frage nicht beantworten. Gut ist, dass sich mittlerweile fast überall die Erkenntnis durchsetzt, dass in der Branche etwas getan werden muss. Der Kunde erwartet mittlerweile dieselben schnellen, einfachen und transparenten Prozesse, die er beispielsweise von den großen Online-Händlern kennt. Nur steckt der Teufel wie überall im Detail. Das eine wurde schon beschrieben: Eine Smartphone-App macht aus einem ehrwürdigen gewachsenen Versicherer kein agiles InsurTech. Oder anders gesagt, aus einem Öltanker wird durch etwas bunte Farbe kein Schnellboot. Die Unternehmen, die Digitalisierung nur als Aushängeschild für den Vertrieb betrachten, streichen lediglich die Fassade neu. Der Kern, der eigentlich saniert werden muss, bleibt unangetastet. Das rächt sich mit Sicherheit, weil der Anspruch nicht zur Realität passt. Und das wird dann teuer.

Das andere Thema betrifft die betriebsinternen Prozesse: Es ist naheliegend, im Rahmen der Digitalisierung die eigene IT auf Vordermann zu bringen, neueste Datenbanken einzuführen und genormte digitale Interfaces in den Markt zu schaffen, damit ein sauberer Datenaustausch stattfinden kann. Aber wer dabei vergisst, seine Betriebsorganisation mitzunehmen bzw. von vornherein die Geschäftsprozesse auf die neuen IT-Strukturen anzupassen, verschenkt ein riesiges Potential.

Wo liegen die größten Herausforderungen und Chancen für große Versicherungsunternehmen?

Digitalisierung ist immer ganzheitlich zu betrachten. Ziehen die Prozesse nicht im gleichen Maß nach wie die IT optimiert wird, versickert der technologische Effizienzgewinn im trockenen Sand der alten analogen Bearbeitung. Und der Faktor Mensch bleibt wichtig, er muss im Rahmen einer Erneuerung genauso mitgenommen und überzeugt werden. Schließlich ist ein Digitalisierungsprojekt immer auch ein Überzeugungsprojekt. Das stellt große Unternehmen vor gewaltige Herausforderungen, die Transformation der gesamten Organisation ist nicht einfach. Sie ist aber möglich, wenn sie nachhaltig und durchgängig geplant wird. Es gibt sogar einige clevere Beispiele im Markt, bei denen sich Versicherungsunternehmen über eine ausgegliederte Einheit oder eine Kooperation mit einem InsurTech die Zeit geben, die ersten digitalen Schritte in einem konzentrierten Team zu gehen. Dadurch werden Voraussetzungen geschaffen, zunächst wertvolle Erfahrungen zu sammeln und das involvierte Kernteam anschließend in die eigene große Organisation auszusenden, um als Multiplikatoren die Technik, die Prozesse und die Kollegen auf den neuen Weg mitzunehmen.

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Die Fragen stellte Björn Bergfeld

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