Versicherungsbote: Herr Voss, wie wirkt sich das veränderte digitale Kundenverhalten auf den Versicherungsvertrieb aus?

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Neodigital / Stephen VossNeodigital / Stephen VossStephen Voss, Vorstand und Gründer der Neodigital Versicherung AG mit Sitz in Neunkirchen im Saarland.Neodigital / Stephen VossVoss: Der Kunde hat heute aufgrund der digitalen Verfügbarkeit von Informationen einen deutlich höheren Kenntnisstand und ein breiteres Wissen über Versicherungen. Darauf muss sich der Vertrieb einstellen. Wenn der Kunde sich digitaler Hilfsmittel bedient, darf der Vertrieb oder Versicherer nicht schlechter aufgestellt sein. Mit anderen Worten: Wenn der Kunde über ein Vergleichsportal oder einen Finanztest erste Erkenntnisse zum Preis-/Leistungsverhältnis seiner Versicherung hat, muss der Vertrieb in der Lage sein, diese aufzugreifen und in ein schlüssiges digital gestütztes Angebot für den Kunden umzusetzen.

Was genau tut die Branche, um sich dieser Entwicklung zu stellen?

Zunächst einmal ist es mir wichtig zu betonen, dass die Branche erkannt hat, dass sie dem Kunden mit einem besseren Angebot an Informationen, Geschwindigkeit und Service entgegentreten muss. Der Kunde erwartet heute, geprägt durch die großen Online-Einzelhändler, eine schnelle Erledigung seiner Versicherungsangelegenheiten. Und das bezieht sich nicht allein auf den Abschluss, sondern vor allem auch der Service rund um das Produkt bis hin zur Schadenmeldung sowie die Kündigung müssen einfach, schnell und flexibel vonstattengehen. Diese „digitale Erwartungshaltung“ ist übrigens keine Frage des Alters. Denn Studien, unter anderem die des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV), zeigen eindeutig, dass fast genauso viele über 60-Jährige digitale Online-Services nutzen wie die jüngeren Versicherungskunden. Digitalverweigerer gibt es in allen Altersklassen, bei den über 60-Jährigen sind es tendenziell ein paar mehr – aber generell nimmt ihre Anzahl rapide ab.

Worauf müssen Versicherer achten – bzw. was machen sie konkret falsch?

Es ist am meisten darauf zu achten, ein umfassendes digitales Angebot anzubieten – und hierin liegt auch der größte Fehler, der begangen werden kann. Es reicht nicht aus, eine mobile App anzubieten, um sich als Unternehmen einen frischen Anstrich zu geben. Es steckt viel mehr dahinter, denn der Kunde von heute durchschaut aufgrund seiner breiten Informationsbasis ganz schnell, ob sich hinter einem digitalen Angebot tatsächlich ein für ihn besserer Prozess verbirgt – oder eben nicht. Hinzu kommt, dass unabhängige Vergleichsportale – wie sie von mehreren Anbietern im Markt zu finden sind – die Erfahrungswerte der Kunden abfragen und sie online als Information zur Verfügung stellen. Wer nur eine digitale Fassade aufbaut, die dem Kunden ohne nachhaltig verbesserten Prozess keine echten Vorteile bei Geschwindigkeit, Flexibilität und Transparenz bietet, wird von der „Community“ der Versicherten ganz schnell abgestraft. Und sinkt somit nicht nur in den Bewertungen im Netz, sondern auch dauerhaft im Ansehen der Kunden.

Insofern ist darauf zu achten, dass die digitale Strategie des Unternehmens darauf abzielt, möglichst weite Strecken der Wertschöpfungskette abzubilden und dort zu optimieren. Dass dies je nach Größe und Komplexität des Unternehmens nicht sofort und an allen Stellen funktionieren kann, ist klar und auch die Herausforderung eines solchen Projektes.

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Das Schlüsselwort lautet Kundenzentriertheit. Die zentrale Frage lautet: Zahlt das angestrebte Projektergebnis auf die Erwartungen der Kunden ein? Und in diesem Zusammenhang ist mit Kunde nicht nur der Endkunde gemeint. Es können auch interne Kunden sein, beispielsweise das Schadenmanagement. Oder der eigene Vertrieb oder die Vertriebspartner, die vom digitalen Angebot profitieren. Verbessert sich dadurch die Positionierung der Produkte bzw. der Service, profitiert auch die gesamte Organisation.

Die digitale Werkbank

In welchen Bereichen sind die Versicherer auf dem richtigen Weg?

Es gibt durchaus einige gute Beispiele am Versicherungsmarkt, die zeigen, wie man das Thema Digitalisierung richtig angehen kann. Klar ist aber auch, dass die digitale Transformation aufgrund der Größe und der Komplexität der großen Gesellschaften nicht auf einen Schlag gelöst werden wird. Man ist als Unternehmen gut beraten, sich durch ausgewählte Projekte bzw. clevere Kooperationen dem digitalen Wissen und der Erfahrung anzunähern, um beides später in der eigenen Organisation umzusetzen. So gibt es etwa in Köln die InsurLab Germany e.V. InsurLab Germany fungiert als Plattform zur Vernetzung von Startups und Versicherungsunternehmen in Deutschland, damit beide Seiten vom gegenseitigen Austausch profitieren können und das Versicherungserlebnis beim Kunden nachhaltig verbessert wird.

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Andere Unternehmen wie beispielsweise die Debeka, Marktführer in der privaten Krankenversicherung, beteiligen sich strategisch an jungen dynamischen Versicherungs-StartUps. Das hat gleich mehrere Vorteile: Man hat losgelöst von der eigenen Struktur ein frei denkendes Unternehmen, das Dinge im Vergleich zu den gelernten Verhaltensmustern der alten Organisation anders, frisch und neu angehen kann. Zudem kann man Innovationen, die in der strategischen Beteiligung funktioniert haben, sukzessive und kontrolliert in den eigenen Betriebsablauf integrieren. Außerdem schafft man als Unternehmen mit einer solchen strategischen Beteiligung auch eine gewisse Attraktivität für neue frische Talente. Denn auch der Wettstreit um die besten Köpfe in der Versicherungsbranche ist längst entbrannt.

Können Kooperationen und Beteiligungen an StartUps auf Dauer die Lösung sein?

Die strategische Beteiligung ist – in Abhängigkeit der eigenen Struktur und Konzernpolitik – nicht überall das passende Vehikel, oft spielen Faktoren wie Zeit oder vorhandene Ressourcen eine große Rolle. Doch auch hier gibt es einige intelligente Lösungsansätze. So bieten eine Handvoll der neuen Insurtechs am Markt sogenannte Insurance as a Service (IaaS) oder Plattform-Lösungen an. In solchen Fällen läuft es also auf eine Kooperation hinaus: Das Insurtech im IaaS-Modell bietet dem etablierten Versicherer seine eigene Technik als digitales Modell an – jene „digitale Werkbank“, die dem alteingesessenen Versicherer derzeit noch fehlt. Er kann neue agile Produkte einführen, neue Kundengruppen erschließen und damit neue Akzente im Vertrieb setzen, ohne damit die vorhandene Technik oder seine Organisation komplett zu überfordern.

Für beide Partner ist das eine „Win-win-Situation“: Das Insurtech erhält Entwicklungsmittel und Stückzahlen für seine eigene Plattform – und der etablierte Versicherer im Gegenzug ein Produktmodell, das er auf Basis seiner vorhandenen Systeme gar nicht hätte abbilden können. Für ihn hat sich damit das Time-to-Market massiv beschleunigt, und Innovation lebt vor allem auch von Geschwindigkeit.

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Betrachtet man abschließend die verschiedenen Möglichkeiten, die sich einem Versicherungsunternehmen für die eigene Digitalisierung bieten, bleibt eines festzuhalten: Es gibt viele individuelle Gründe, in der Digitalisierung verschiedene Wege zu gehen. Auch, um Fehler zu vermeiden. Aber es gibt absolut keinen Grund, von vornherein keinen dieser Wege einzuschlagen.

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