Guter und kompetenter Verbraucherschutz wäre bei einem so komplexen Thema wie der Berufsunfähigkeitsversicherung (BU) imminent wichtig. Umso mehr überrascht es, mit welcher Regelmäßigkeit die Zeitschrift „Finanztest“ für Kopfschütteln in der Branche sorgt.

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Hatte bereits Versicherungsmakler Matthias Helberg ab 2013 mehrfach den Testern Fehler nachweisen können - immerhin mit großem medialen Interesse - (der Versicherungsbote berichtete), so sind es nun die Gebrüder Bierl, die einen Artikel des Verbrauchermagazins auseinandernehmen. Aus ihrem Blogeintrag spricht Wut und Entsetzen. „Bitte, bitte - nehmt das Thema Berufsunfähigkeitsversicherung entweder ernst oder lasst es“, so ihre eindringliche Bitte an die Verbrauchertester.

Leitfaden für junge BU-Interessenten

Konkret will Finanztest in ihrer aktuellen Ausgabe 09/2018 seinen jungen Leserinnen und Lesern einen Leitfaden in die Hand geben, wie sie eine Berufsunfähigkeitsversicherung abschließen können. Sogar ohne kompetente Hilfe eines Fachmannes - sei es ein Vertreter, Makler oder Berater. Der Wegweiser ist in sieben Schritte untergliedert. Die Gebrüder Bierl widmen sich dem Weg hin zum BU-Schutz sehr ausführlich, wie in ihrem Blogbeitrag nachgelesen werden kann. Im Folgenden sollen nur einige ausgewählte Kritikpunkte angesprochen werden.

“Schritt für Schritt zum richtigen Vertrag in der Berufsunfähigkeitsversicherung“, so ist der Wegweiser überschrieben. Bereits Punkt 1 lässt aber befürchten, dass der Schritt in die Falle der vorvertraglichen Anzeigepflichtsverletzung führen könnte. Oder in die schwarze Liste der Versicherungswirtschaft, auf der vermerkt ist, welcher Kunde bereits mit Auffälligkeiten für einen BU-Antrag abgelehnt wurde.

“Finanztest“ empfiehlt nämlich unter dem Stichwort „Anfragen starten“: „Wählen Sie als gesunder junger Mensch aus der Tabelle auf Seite 81 mehrere preisgünstige Angebote und wenden Sie sich an die Versicherer. Notwendigen Angaben: Geburtsdatum, Laufzeit bis 67 Jahre, Tätigkeit, gewünschte Rentenhöhe.“ Mit anderen Worten: Die LeserInnen sollen einen Versicherer direkt anschreiben - auf Basis einer „Finanztest“-Liste, die vermeintlich preiswerte Anbieter auflistet.

Man kann diesen Rat gar nicht verstehen ohne eine Art Grundthese von den AutorInnen des Finanztest-Wegweisers. Nämlich, dass es für einen jungen Menschen ja gar nicht schwer sein könne, einen geeigneten BU-Schutz zu finden. Er ist ja noch gesund und hat wohl keine nennenswerten Vorerkrankungen, die in Ausschlüsse münden könnten. Tatsächlich konkurrieren viele Versicherer um junge und gesunde Kunden mit geringem Risiko.

...und was ist mit der Krankenakte?

Aber: So einfach ist es eben nicht. Vor den BU-Schutz haben die Versicherer die Hürde der Gesundheitsfragen gesetzt. Werden diese nicht exakt beantwortet, kann der Versicherer später im Leistungsfall geltend machen, dass die vorvertragliche Anzeigepflicht verletzt wurde - und vom Vertrag zurücktreten. Prüfen wird dies der Versicherer aus Kostengründen erst im Leistungsfall, also wenn der Versicherungsnehmer eine Berufsunfähigkeits-Rente beantragt hat. Im schlimmsten Fall verliert dann der Betroffene seinen Schutz und folglich auch die Rente, obwohl er jahrelang Beiträge zahlte.

Deshalb empfehlen BU-Experten, zunächst die Krankenakte für den abgefragten Zeitraum zu recherchieren, in der Regel für fünf Jahre. Diese Krankenakte ist dann auch ausschlaggebend dafür, bei welchem Versicherer man anfragt, gehen doch die Anbieter sehr verschieden mit Vorerkrankungen um. Wo eine Gesellschaft bestimmte Vorerkrankungen mit Ausschlüssen bestraft, muss das bei einer anderen nicht der Fall sein.

Auf Basis dieser Recherche können dann auch mehrere Versicherer angeschrieben werden. In der Regel als anonyme Voranfrage, also ohne, dass der Name des Antragstellers genannt wird. Wer abgelehnt wird muss nämlich fürchten, in der HIS-Auskunftei der Versicherungsbranche zu landen: eine Art schwarze Liste ähnlich der Schufa, in der Kunden mit Auffälligkeiten eingetragen werden. Das erschwert einen Abschluss zusätzlich.

“Finanztest“ aber empfiehlt ohne Not, den Versicherer direkt mal eben anzuschreiben, ob man sich bei ihm versichern kann. Ein Rat, mit dem man sich auch gegen die Empfehlung anderer Verbraucherverbände stellt, etwa den Verbraucherzentralen oder dem Bund der Versicherten (BdV). Auch sie haben bereits mehrfach eine Recherche der Krankenakte und anonyme Risikovoranfrage angeraten.

"Wie kann man so eine Vorgehensweise ernsthaft empfehlen?"

“Wie kann man so eine Vorgehensweise auch nur ernsthaft empfehlen?“, fragt folglich Tobias Bierl auf seinem Blog. "Was machen wir und auch viele geschätzte Kollegen seit Jahren falsch? Das soll der erste Schritt sein? Man soll aus einer sehr dubiosen Liste (ein Großteil der Unternehmen hat nicht mal mitgemacht) Versicherer auswählen und diese dann einfach so anschreiben? Wie kann es sein, dass wir uns oft 4-5 Stunden mit dem Kunden beraten, bevor wir diesem auch nur EIN Angebot vorzeigen? (Hervorhebungen im Originaltext)

"Das A und O in einer korrekten Beratung zur Berufsunfähigkeitsversicherung ist die saubere Aufbereitung der Gesundheitshistorie", argumentiert Versicherungsmakler Bierl weiter, den Leser direkt ansprechend. "Denn nicht Du hast die freie Auswahl nach der passenden Gesellschaft, sondern das Versicherungsunternehmen ist frei in der Entscheidung, ob es Dich nimmt oder nicht. Was hilft es Dir, wenn Du ein tolles Angebot hast, aber vor 4 Jahren der Rücken zwickte und Du eine Ausschlussklausel bekommst?"

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Zwar rät auch die Finanztest später in seinem BU-Wegweiser: „Füllen Sie alle Formulare wahrheitsgemäß und vollständig aus. Fragen Sie im Zweifel bei Ihren Ärzten oder Krankenversicherung nach. Haben Sie Gesundheitsfragen falsch beantwortet, können Sie später den kompletten Versicherungsschutz verlieren“. Aber dies erfolgt erst unter Punkt Vier, „Anträge ausfüllen“. Wir befinden uns also mitten im Antragsprozess, der Versicherer hat bereits die notwendigen Unterlagen zugesendet.

Anonyme Voranfrage: Vor allem, wenn chronische Erkrankungen bekannt?

Über die Möglichkeit einer anonymen Risikovoranfrage werden die Leser von Finanztest ebenfalls erst später aufgeklärt, unter dem Schritt 6: "Vorerkrankungen". Dies sei aber ebenfalls missverständlich, kommentiert Bierl. Das Verbrauchermagazin wird mit den Worten zitiert: "Chronische Vorerkrankungen, sonstige Krankheiten und Krankenhausaufenthalte müssen Sie angeben – oft für die vergangenen fünf oder zehn Jahre. Es kann sinnvoll sein, die Hilfe eines unabhängigen Versicherungsberaters oder Versicherungsmakler in Anspruch zu nehmen. Diese können versuchen, bei Versicherern anonyme Risikovoranfragen zu stellen."

"Der Laie liest es, er müsse nur Chronische Vorerkrankungen angeben. Er muss quasi aber jeden Arztbesuch angeben", kommentiert Bierl. "Ob es für den Versicherer interessant ist, entscheidet nicht der Antragssteller und auch nicht wir als Makler, sondern einzig und allein der Versicherer."

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Das Problem manipulierter Krankenakten

Ein wichtiges Problem spricht der Makler hierbei gar nicht an: Gesetzliche Krankenkassen zahlen Prämien an Ärzte, wenn sie Patienten auf dem Papier kränker machen, als sie tatsächlich sind. So bekommen sie mehr Geld aus dem Gesundheitsfonds. Die Praxis wurde erstmals 2016 von TK-Chef Jens Baas angesprochen. Für die Kunden privater Kranken- und Lebensversicherer sind diese gefälschten Akten doppelt brisant. Sollte der Versicherer die falsche Diagnose in der Krankenakte finden, wird er ebenfalls versuchen, von Vertrag und Leistung zurückzutreten. Je länger die falsche Diagnose zurückliegt, desto schwieriger wird es sein, eine Manipulation der Gesundheitsakte nachzuweisen (der Versicherungsbote berichtete).

Keineswegs handelt es sich um Einzelfälle: Laut einer Studie des IGES-Institutes von 2017 geben die Kassen pro Jahr 290 Millionen „finanzielle Anreize“ an die Ärzte, um Diagnosen entsprechend aufzupimpen (der Versicherungsbote berichtete). Aus einer depressiven Verstimmung kann so schnell in der Patientenakte eine waschechte Depression werden, das bringt pro Fall satte 1.000 Euro mehr ein. Auch deshalb empfiehlt es sich für jeden BU-Antragsteller, die Krankenakte zu prüfen, denn auch der BU-Versicherer wird sich später an den Daten der manipulierten Akte orientieren. Die Ärzte und Kassen sind verpflichtet, falsche Einträge zu korrigieren.

...und die Netto-Prämie?

Ein weiteres Manko stellt für die Bierl-Brüder dar, dass "Finanztest" empfiehlt, "mehrere preisgünstige Angebote" anhand einer eigens erstellten Tabelle auszuwählen. Ob ein Anbieter preiswert ist, haben die Tester anhand von Musterkunden ermittelt, kritisiert Bierl. "Nur weil bei dem Musterkunden in der Finanztest ein günstiges Angebot rauskam, heißt es nicht, dass es in Deiner Berufsgruppe / Deinem Studienziel genauso ist. Da werden wieder Äpfel mit Birnen verglichen", schreibt er an seine Leser.

Noch schwerwiegender ist aber, dass "Finanztest" erneut nur den Nettobeitrag im Blick hat: also die aktuell zu zahlende Prämie. Diese kann aber über die Vertragslaufzeit hinweg erheblich steigen, wenn der Versicherer nicht gut kalkuliert - oder gar Kunden mit einer niedrigen Einstiegsbeitrag anlocken will, schon wissend, dass später die Beiträge rapide steigen müssen. Bierl nennt als Beispiel die WWK, die in manchen BU-Tarifen im letzten Jahr die Prämien für Bestandskunden um 40 Prozent angehoben hatte.

Hier sei auf den Unterschied von Brutto- und Nettoprämie verwiesen. Beim Nettobetrag handelt es sich - stark vereinfacht - um die Summe, die der Kunde zunächst zahlen muss, also beim Abschluss der Versicherung. Sie liegt meist unter dem Bruttobetrag, weil Versicherer den Kunden die Überschüsse gutschreiben, die sie erwirtschaften. Entwickeln sich die Überschüsse ungünstig, wird der tatsächlich zu zahlende Beitrag schnell teurer. Auch wenn die Leistungsausgaben stärker als erwartet steigen, kann sich der BU-Schutz selbst im Vertragsbestand deutlich verteuern.

"Die BU-Versicherung läuft teilweise knapp 50 Jahre. Was hilft einem jetzt ein günstiger Anbieter, der vielleicht in einigen Jahren massiv erhöht?", kommentiert Bierl. Auch Versicherungsmakler Matthias Helberg hatte bereits kritisiert, dass die Stiftung Warentest in ihren Tarifvergleichen die wichtige Nettoprämie vernachlässige. Ein Thema, bei dem die Verbraucher weit besser aufgeklärt werden müssen - weil sich der Bruttobeitrag als Kostenfalle entpuppen kann.

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Die Finanzberatung Bierl nennt weitere Kritikpunkte. Man kann über das Vorgehen bei einem BU-Antrag geteilter Meinung sein. Aber manche der Empfehlungen von "Finanztest" - etwa, die Krankenhistorie "nur" bei Vorerkrankungen zu recherchieren - gefährden schlicht später den Berufsunfähigkeits-Schutz, wenn sie den Kunden zu einem allzu sorglosen Vorgehen verleiten. Hier stellt sich erneut die Frage, ob derartige Magazine für ihren Ratschlag haftbar gemacht werden könnten und sollten.

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