In seinem Buch „Lügen mit Zahlen“ weist der Statistiker Gerd Bosbach auf eine bestimmte Art der statistischen Interpretation hin, die er als „Yang-ohne-Yin-Phänomene“ bezeichnet: Positive oder negative Aspekte einer Statistik können manipulativ verwendet werden, indem man bestimmte Informationen hervorhebt, andere hingegen verschweigt. Zur Verdeutlichung führt Bosbach ein Beispiel aus der Politik an. Als ein früherer Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen auf einer Kundgebung sagte, er habe 2.200 vollzeitbeschäftigte Lehrer neu eingestellt und damit die Bildungssituation im Land verbessert, verschwieg er bewusst, dass im selben Zeitraum 2.500 Lehrer pensioniert wurden. In der Summe fielen also 300 Lehrerstellen weg – keine gute Bilanz, um damit Wahlkampf zu machen!

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Ein solches Yang-ohne-Yin, das Verschweigen wichtiger Informationen, war gestern wieder in den deutschen Medien zu beobachten. „In Deutschland sind so viele beschäftigt wie nie zuvor“ titelte beispielsweise die ZEIT und präsentierte die Schlagzeile als Topnews: Die gute Konjunktur habe bewirkt, dass 2011 im Jahresschnitt 41,04 Millionen Menschen eine Arbeit hatten, so viele wie nie zuvor in der Geschichte Deutschlands. Das waren 535.000 Erwerbstätige mehr als im Vorjahr. Bebildert wurde der Text mit zwei Gerüstbauern, die morgens vor der aufgehenden Sonne ihre Arme gen Himmel strecken: Ein hoffnungsfrohes Foto zu einem hoffnungsvollen Artikel. In ähnlicher Form präsentierten auch andere Medien die News, Regionalzeitungen wie die LVZ brachten die Rekordzahl sogar auf den Titelseiten. Die unterschwellige Botschaft dieser Meldungen: Es geht uns gut, es herrscht Aufschwung, uns kann die Krise nichts anhaben.

Auch Niedriglöhner und 1-Euro-Jobber gelten als Erwerbstätige

Zunächst ist nichts falsch an den Zahlen, die aus einer Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes stammen. Tatsächlich sind so viele Deutsche in einem Erwerbsverhältnis wie nie zuvor, und tatsächlich kann dies Anlass zur Hoffnung geben. Doch an dieser Stelle kommt nun das fehlende „Yin“ ins Spiel: Jene Informationen, die in so mancher Jubelmeldung fehlen. Und zumindest die Frage erlauben, wie aussagekräftig die Zahl der Erwerbstätigen überhaupt ist.

Bereits die Definition der Erwerbstätigkeit kann hier eine erste Ernüchterung bedeuten. Als erwerbstätig gelten alle Menschen, die innerhalb einer Woche mindestens eine Stunde lang arbeiten. Der Erwerbszahl liegt das Labour Force Konzept der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zugrunde. Auf der Homepage des Statistischen Bundesamtes heißt es hierzu:

Erwerbstätig im Sinne der ILO-Definition ist jede Person im erwerbsfähigen Alter, die in einem einwöchigen Berichtszeitraum mindestens eine Stunde lang gegen Entgelt oder im Rahmen einer selbstständigen oder mithelfenden Tätigkeit gearbeitet hat.

Mindestens eine Stunde Arbeitszeit in der Woche? Das ist nicht viel. Das ist überraschend wenig. Da mag es kaum verwundern, dass sogar Ein-Euro-Jobber, Minijobber und Niedriglöhner als Erwerbspersonen erfasst werden. Aber weiß der Zeitungsleser, dass die Hürden einer Erwerbstätigkeit derart niedrig sind? So mancher Rezipient könnte ob dieser Information enttäuscht sein – und die Meldung weniger euphorisch aufnehmen.

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Die Anzahl der Erwerbstätigen sagt somit nichts darüber aus, von welcher Qualität die Erwerbsarbeit ist – wie lange die Menschen arbeiten und ob sie genug zum Leben verdienen. Unter den Erwerbstätigen sind viele Menschen, die auf Hartz IV angewiesen sind und von der Arbeitsagentur als arbeitssuchend geführt werden. weiter auf Seite 2: Kein eindeutiger Zusammenhang zwischen Konjunktur und Erwerbstätigkeit

Topmeldung: 41 Millionen Menschen arbeiten mindestens eine Stunde pro Woche!

Kein eindeutiger Zusammenhang zwischen Erwerbstätigkeit und positiver Wirtschaftsentwicklung

Was aber offenbart die Zahl der Erwerbstätigen hinsichtlich der Wirtschaftsentwicklung? Zunächst ebenfalls nicht viel. Da sowohl Ein-Euro-Jobber als auch Topverdiener als erwerbstätig eingestuft werden, ist diese statistische Größe ohne Zusatzinformationen kaum aussagekräftig. Und obwohl sich die Wirtschaft in Deutschland im letzten Jahr besser entwickelte als erwartet, obwohl auch ein Wirtschaftswachstum zu verzeichnen war, kann gerade der Anstieg der Erwerbszahlen mit negativen Trends erklärt werden:

  • 1.) Der Anstieg der Erwerbszahlen kann Ausdruck eines Strukturwandels sein, bei dem Vollzeitjobs durch Teilzeitarbeit, Leiharbeit und prekäre Beschäftigung verdrängt werden. Denn wird die vorhandene Arbeit auf immer mehr Schultern verteilt, weil Arbeitgeber auf diese Weise Lohn und Steuern einsparen können, wirkt sich dies positiv auf die Beschäftigungszahlen aus.

    Tatsächlich stieg deutschlandweit die Zahl der atypischen Beschäftigungsverhältnisse, von Zeit-, befristeter und Niedriglohnarbeit deutlich an. Zwischen 1998 und 2008 ist ein Plus von 46,2 Prozent zu verzeichnen, 7,7 Millionen Erwerbstätige waren davon betroffen. Hingegen gingen in den Jahren von 2000 bis 2008 fast 2,3 Millionen Vollzeitstellen verloren (ohne Leiharbeit, Angaben nach Statistisches Bundesamt 2009). Zwar gibt es auch hier in den letzten Monaten eine langsame Entspannung - die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung nimmt wieder zu. Doch auf lange Sicht boomen in Deutschland vor allem die schlechten Jobs.


  • 2.) Der Anstieg der Erwerbstätigkeit kann darauf hindeuten, das neue Gruppen auf den Arbeitsmarkt drängen, das Angebot an Arbeitskräften also steigt. Dies muss nicht positiv sein, sondern kann auf einen steigenden Verdrängungswettbewerb im Niedriglohnsektor hindeuten: Etwa wenn immer mehr Studenten während ihres Studiums einen Billigjob ergreifen müssen, weil sie von ihrem Bafög nicht leben können. Oder wenn immer mehr Rentner einen Job haben, weil die Altersbezüge schrumpfen – erfasst werden laut Statistik Personen bis zu ihrem 74. Lebensjahr. In beiden Fällen wäre eine Zunahme der Beschäftigtenzahlen zu verzeichnen.

    Durchaus nahm die Zahl der arbeitenden Rentner in den letzten Jahren zu. Wie die Saarbrücker Zeitung im August berichtete, sind im Jahr 2010 rund 660.000 Menschen im Alter zwischen 65 und 74 Jahren einer geringfügigen Beschäftigung nachgegangen. Im Vergleich zum Jahr 2000 bedeutet dies ein Plus von 58,6 Prozent!

Zunahme des Arbeitsangebotes begünstigte Anstieg der Erwerbsarbeit

Ein weiterer Grund gibt Anlass zur Skepsis: Seit den 70er Jahren ist die Zahl der Erwerbstätigen sogar in Zeiten zunehmender Arbeitslosigkeit gestiegen. Dies resultierte u.a. daraus, dass mehr Menschen auf den Arbeitsmarkt drängten, das Angebot an Arbeitskräften also schneller stieg als die Nachfrage. Vor allem die Frauenerwerbstätigkeit nahm seit den 70ern sprunghaft zu, da immer mehr Frauen ihr eigenes Geld verdienen wollen und müssen.

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Ein Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Erwerbsbeteiligung ist somit nicht zwangsläufig. Dies gilt übrigens auch für den Umkehrschluss: Nicht immer wenn die Wirtschaft boomte, erhöhte sich auch die Erwerbszahl. So stand dem relativ starken Wirtschaftswachstum zwischen 1993 und 1997 kein Anstieg der Erwerbstätigkeit gegenüber.

Topnews für den Konjunkturoptimismus?

Wie also soll man also die aktuellen Meldungen und die damit verbundene Euphorie einordnen? Wohlwollend kann man sie als eine Art Glückspille beschreiben: Deutschland meistert die Weltwirtschaftskrise bisher besser als gedacht, die Wirtschaft ist im letzten Jahr um drei Prozent gewachsen, und da einige Wirtschaftsforschungsinstitute für das kommende Jahr sogar eine Rezession ankündigen, kann ein Stimmungsaufheller nicht schaden. Es ist bekannt, dass die Psychologie auch in der Wirtschaft eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt – Gekauft und investiert wird, wenn die Aussichten positiv sind!

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In einer weniger wohlwollenden Interpretation wäre zu kritisieren, dass viele Wirtschaftsredaktionen ihrer journalistischen Sorgfaltspflicht nicht im ausreichenden Maße nachkommen. Hier sei auf eine dritte Information verwiesen, die als fehlendes Yin einer positiven Arbeitsmarktentwicklung entgegen steht: Im Juni 2010 hat das Statistische Bundesamt betont, dass in Deutschland viele Erwerbstätige gern mehr als bisher arbeiten würden. Demnach wünscht sich jeder zehnte Erwerbstätige mehr Arbeit und mehr Lohn, kann aber keine entsprechende Stelle finden – die Erwerbslosen sind hierbei nicht einmal mit eingerechnet. Auch gaben in einer Umfrage vor wenigen Monaten sieben von zehn Bürgern an, nicht persönlich vom Wirtschaftsaufschwung profitieren zu können. Wettbewerbsvorteile gegenüber seinen europäischen Nachbarn hat sich Deutschland auch aufgrund seiner rigorosen Niedriglohnpolitik verschafft.

Mirko Wenig

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