Kein eindeutiger Zusammenhang zwischen Erwerbstätigkeit und positiver Wirtschaftsentwicklung

  • 1.) Der Anstieg der Erwerbszahlen kann Ausdruck eines Strukturwandels sein, bei dem Vollzeitjobs durch Teilzeitarbeit, Leiharbeit und prekäre Beschäftigung verdrängt werden. Denn wird die vorhandene Arbeit auf immer mehr Schultern verteilt, weil Arbeitgeber auf diese Weise Lohn und Steuern einsparen können, wirkt sich dies positiv auf die Beschäftigungszahlen aus.

    Tatsächlich stieg deutschlandweit die Zahl der atypischen Beschäftigungsverhältnisse, von Zeit-, befristeter und Niedriglohnarbeit deutlich an. Zwischen 1998 und 2008 ist ein Plus von 46,2 Prozent zu verzeichnen, 7,7 Millionen Erwerbstätige waren davon betroffen. Hingegen gingen in den Jahren von 2000 bis 2008 fast 2,3 Millionen Vollzeitstellen verloren (ohne Leiharbeit, Angaben nach Statistisches Bundesamt 2009). Zwar gibt es auch hier in den letzten Monaten eine langsame Entspannung - die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung nimmt wieder zu. Doch auf lange Sicht boomen in Deutschland vor allem die schlechten Jobs.


  • 2.) Der Anstieg der Erwerbstätigkeit kann darauf hindeuten, das neue Gruppen auf den Arbeitsmarkt drängen, das Angebot an Arbeitskräften also steigt. Dies muss nicht positiv sein, sondern kann auf einen steigenden Verdrängungswettbewerb im Niedriglohnsektor hindeuten: Etwa wenn immer mehr Studenten während ihres Studiums einen Billigjob ergreifen müssen, weil sie von ihrem Bafög nicht leben können. Oder wenn immer mehr Rentner einen Job haben, weil die Altersbezüge schrumpfen – erfasst werden laut Statistik Personen bis zu ihrem 74. Lebensjahr. In beiden Fällen wäre eine Zunahme der Beschäftigtenzahlen zu verzeichnen.

    Durchaus nahm die Zahl der arbeitenden Rentner in den letzten Jahren zu. Wie die Saarbrücker Zeitung im August berichtete, sind im Jahr 2010 rund 660.000 Menschen im Alter zwischen 65 und 74 Jahren einer geringfügigen Beschäftigung nachgegangen. Im Vergleich zum Jahr 2000 bedeutet dies ein Plus von 58,6 Prozent!

Zunahme des Arbeitsangebotes begünstigte Anstieg der Erwerbsarbeit

Ein weiterer Grund gibt Anlass zur Skepsis: Seit den 70er Jahren ist die Zahl der Erwerbstätigen sogar in Zeiten zunehmender Arbeitslosigkeit gestiegen. Dies resultierte u.a. daraus, dass mehr Menschen auf den Arbeitsmarkt drängten, das Angebot an Arbeitskräften also schneller stieg als die Nachfrage. Vor allem die Frauenerwerbstätigkeit nahm seit den 70ern sprunghaft zu, da immer mehr Frauen ihr eigenes Geld verdienen wollen und müssen.

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Ein Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Erwerbsbeteiligung ist somit nicht zwangsläufig. Dies gilt übrigens auch für den Umkehrschluss: Nicht immer wenn die Wirtschaft boomte, erhöhte sich auch die Erwerbszahl. So stand dem relativ starken Wirtschaftswachstum zwischen 1993 und 1997 kein Anstieg der Erwerbstätigkeit gegenüber.

Topnews für den Konjunkturoptimismus?

Wie also soll man also die aktuellen Meldungen und die damit verbundene Euphorie einordnen? Wohlwollend kann man sie als eine Art Glückspille beschreiben: Deutschland meistert die Weltwirtschaftskrise bisher besser als gedacht, die Wirtschaft ist im letzten Jahr um drei Prozent gewachsen, und da einige Wirtschaftsforschungsinstitute für das kommende Jahr sogar eine Rezession ankündigen, kann ein Stimmungsaufheller nicht schaden. Es ist bekannt, dass die Psychologie auch in der Wirtschaft eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt – Gekauft und investiert wird, wenn die Aussichten positiv sind!

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In einer weniger wohlwollenden Interpretation wäre zu kritisieren, dass viele Wirtschaftsredaktionen ihrer journalistischen Sorgfaltspflicht nicht im ausreichenden Maße nachkommen. Hier sei auf eine dritte Information verwiesen, die als fehlendes Yin einer positiven Arbeitsmarktentwicklung entgegen steht: Im Juni 2010 hat das Statistische Bundesamt betont, dass in Deutschland viele Erwerbstätige gern mehr als bisher arbeiten würden. Demnach wünscht sich jeder zehnte Erwerbstätige mehr Arbeit und mehr Lohn, kann aber keine entsprechende Stelle finden – die Erwerbslosen sind hierbei nicht einmal mit eingerechnet. Auch gaben in einer Umfrage vor wenigen Monaten sieben von zehn Bürgern an, nicht persönlich vom Wirtschaftsaufschwung profitieren zu können. Wettbewerbsvorteile gegenüber seinen europäischen Nachbarn hat sich Deutschland auch aufgrund seiner rigorosen Niedriglohnpolitik verschafft.

Mirko Wenig

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