Aber ja, ich gebe es zu und bekenne mich hiermit schuldig. Als ich im Herbst 2009 nach meinem Studiumsabschluss für mehrere Monate in die Arbeitslosigkeit abrutschte, da wurde auch ich einer von jenen „Drückebergern“, denen Hartz IV-Leistungen gestrichen werden mussten!

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Nicht etwa, weil ich faul und untätig war. In der Zeit meiner „Arbeitslosigkeit“ schrieb ich ein Theaterstück, das an drei ostdeutschen Theaterhäusern lief und für eine kleine Studioproduktion gut besucht war. Ich arbeitete als Redakteur bei einer mitteldeutschen Kulturzeitung und schrieb journalistische Artikel, für die ich lange Reisen und Recherchen auf mich nahm. Ich war an der Organisation von Lesungen beteiligt und veröffentlichte Texte in renommierten Literaturzeitschriften wie der „Neuen Rundschau“. Ich arbeitete als Dozent und als Pauschalkraft in einem Museum – für ein Startgehalt von 5,01 Euro pro Stunde. Ich hatte also mehrere Jobs gleichzeitig, war ständig beschäftigt, hatte viel zu tun – war quasi ein vollzeitbeschäftigter Arbeitsloser. Nur verdiente ich mit all den Jobs nicht genug Geld zum Leben und musste als selbstständiger "Aufstocker" Hartz IV-Leistungen beantragen.

Dieses Schicksal teilte ich mit einigen meiner Kommilitonen. Wie die Tageszeitung DIE WELT berichtet, fanden sich im Krisenjahr 2009 rund 60.000 Universitätsabgänger in der Arbeitslosigkeit wieder. Viele von ihnen waren gut ausgebildet, leistungsbereit und hoch motiviert. Und manchem blieb nur die Flucht ins Ausland. Frühere Kommilitonen arbeiten heute in Schweden, Brasilien oder Großbritannien – in gut bezahlten Jobs, die sie hier in Deutschland nicht finden konnten. Da können die Unternehmen noch so klagen, dass es in Deutschland zu wenig Fachkräfte gibt: Wer nicht bereit ist, gute Arbeit angemessen zu bezahlen, der soll nicht ständig bärmeln!



Die Situation mag sich mit dem Aufschwung der letzten beiden Jahre deutlich gebessert haben. Doch noch immer klagen Studienabgänger in meinem Bekanntenkreis, wie schwierig es sei, einen fair bezahlten Job zu finden. Betroffen sind nicht nur Geisteswissenschaftler und Pädagogen, denen traditionell schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt nachgesagt werden. Auch ein Ingenieur sucht seit längerer Zeit einen Job – Ihm wurden Stellen angeboten, bei denen er für eine 6-Tage-Woche kaum 1.000 Euro Netto verdienen würde. Er ist nicht bei der Arbeitsagentur gemeldet, das will er sich nicht antun. Dann müsste er auch jede noch so schlecht bezahlte Arbeit annehmen. Er lebt derzeit von seinem Ersparten und plant ebenfalls, ins Ausland zu gehen. Er ist beileibe kein Einzelfall, wie ein Artikel des SPIEGEL zeigt.

Warum aber wurde ich in der Zeit zum „Sozialbetrüger“? Die Frage ist schwierig zu beantworten. Zum einen, weil ich mich schlichtweg verrechnet hatte und die komplexen Hartz IV-Regelungen nicht durchschaute. Mein Einkommen setzte sich aus vielen kleinen Beträgen zusammen, teils aus selbstständiger, teils aus nichtselbständiger Arbeit. Ich verdiente mal hier 80 Euro für einen Zeitungsartikel, dort 150 Euro für eine Theateraufführung, wiederum 30 Euro für den Beitrag in einer Anthologie. Mein Verdienst variierte von Monat zu Monat stark, mitunter erhielt ich Zahlungen und Honorare zu spät oder gar nicht. Was ich an Geld genau behalten durfte und was nicht, konnten oder wollten mir auch die Mitarbeiter der Arbeitsagentur nicht immer genau erklären.

Wer Hartz IV-Leistungen bezieht, ist jedoch zu unbedingter Transparenz verpflichtet: Jeden verdienten Cent muss er der Arbeitsagentur möglichst zeitnah melden, sogar das Geburtstagsgeld von Oma und Opa darf der Betroffene nicht einfach behalten. Dann werden die Zuwendungen entsprechend erhöht oder gekürzt – in welchem Umfang die Ausgaben für die Selbstständigkeit gegengerechnet werden dürfen, ist auch vom Wohlwollen der Jobbetreuer abhängig. Letztendlich hatte ich in manchen Monaten zu viel Geld auf dem Konto und wichtige Meldefristen versäumt. Nach zwei Mahnungen und einer Einbestellung wurde ich sanktioniert und ein Teil meiner HartzIV-Bezüge gestrichen. Oder mit den Worten von Deutschlands größtem Boulevardblatt: Ich wurde ein „unwilliger Drückeberger“.

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Bei der BILD-Zeitung möchte ich mich hiermit ausdrücklich dafür entschuldigen, dass ich mich derart am Sozialstaat versündigt habe. Ich werde Buße tun und mir zwei Wochen lang am Kiosk das Seite-1-Mädchen anschauen, das nun auf Seite 3 abgelichtet ist. Kaufen werde ich mir die Zeitung allerdings nicht. Ich muss sparen, damit ich das zu viel erhaltene Hartz IV-Geld zurückzahlen kann. Aber eins möchte ich klar stellen: Ich war fleißig in meiner sozialen Hängematte! Ich hatte wohl mehr zu tun als so mancher Boulevardjournalist.

Mirko Wenig

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