„Das sind die Weisen, die durch den Irrtum zur Wahrheit reisen.“ An der reich verzierten Holzdecke im Kaminzimmer des Neuen Rathauses zu Leipzig ist dieser Vers von Friedrich Rückert eingraviert. Es mag ein Zufall sein, dass hier am Sonntag der Presseempfang der CDU stattfand, in diesem Monumentalbau aus weißem Kalkstein mit seinen prunkvollen Wandelhallen. Und doch sind die Parallelen erkennbar. In Leipzig versuchte der Architekt Hugo Licht einst im 19. Jahrhundert, aus den Fundamenten einer mittelalterlichen Burg ein neues Rathaus zu schaffen, geeignet für die Anforderungen einer aufstrebenden Metropole. Im Jahr 2011 versucht nun Angela Merkel, eine etwas schwerfällig gewordene Volkspartei fitzumachen für die Anforderungen einer sich wandelnden und stetig beschleunigenden Welt.

Anzeige

Am Montag dann spricht Angela Merkel auf dem Gelände der neuen Messe zu den Abgeordneten ihrer Partei. Eine Grundsatzrede von etwa einer Stunde Dauer, die mit minutenlangem Applaus bedacht wird. Die CDU-Chefin redet frei, engagiert, voller Selbstvertrauen. Und fast scheint es, als habe sie rhetorisch den Spagat geschafft: der alten Festung CDU einen modernen Anstrich zu geben.

Kompass und Wandel

Dabei waren die Ausgangsbedingungen nicht leicht. Zuletzt hat die CDU wichtige Wahlen verloren. Konservative Parteimitglieder warfen Angela Merkel vor, die CDU ihres Profils beraubt und zu viele Kurswechsel vorgenommen zu haben. Wichtige Grundsätze der Partei stehen zur Debatte. Abschaffung der Hauptschule, Ende der Wehrpflicht, Lohnuntergrenze – nicht wenige interne Kritiker sprechen von einer Sozialdemokratisierung der Christdemokraten.

Doch Angela Merkel argumentiert bei ihrer Rede einfach so, als habe die CDU seit jeher nach den gleichen Prinzipien gehandelt – die den Wandel dialektisch einschließen. „Wir haben einen Kompass seit 65 Jahren, er gibt uns Halt und Orientierung“, ruft sie den Abgeordneten zu. „Dieser Kompass ist unveränderlich. Es sind unsere Grundwerte Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit.“ Wertefundament der Partei sei schon immer das christliche Menschenbild sowie die Orientierung an der sozialen Marktwirtschaft gewesen. Die Politik habe eine Verantwortung vor Gott und dem Menschen zu übernehmen – Alles andere ist verhandelbar?

Der Kompass, Leitmotiv der Rede, dient als rhetorischer Trick, um der Parteienbasis die vielen Kurswechsel der letzten Monate zu erklären. Die zentrale Gegenwartsdiagnose Angela Merkels lautet: „Die Zeiten, in denen wir leben und arbeiten, verändern sich, und zwar fortlaufend; ich sage: manchmal geradezu atemberaubend.“ Merkel verweist auf den arabischen Frühling. Sie verweist auf den Siegeszug des Internets, der ähnlich große Auswirkungen habe wie die Erfindung des Buchdrucks. Sie verweist auch darauf, dass sich weltweiten Machtverhältnisse in kürzester Zeit verändert haben: China, Brasilien und Indien streben nach oben, auf anderen Kontinenten werden auch mehr Kinder geboren als in Europa. „Aber wir verzagen nicht, wir jammern nicht, wir nörgeln nicht, sondern wir wissen, dass wir eine Aufgabe haben!“ Die Welt ändere sich nunmal, da müsse sich auch die CDU ändern – doch nur, um weiterhin den Weg zu verfolgen, der im Gründungsprogramm der Partei von 1945 steht: „Voll Gottvertrauen wollen wir unseren Kindern und Enkeln eine glückliche Zukunft erschließen“

CDU – christliche „Avantgarde“ der Mitte?

Und überhaupt – wo bitte sind die Brüche in der CDU-Politik? Waren nicht zuvor auch die Westorientierung in Zeiten des kalten Krieges, der NATO-Beitritt oder das Bekenntnis zur deutschen Einheit schwierige Entscheidungen, die ein Umdenken und Neudenken der Politik notwendig machten? Hier zeigt sich ein besonderer Kniff Angela Merkels: sie stellt CDU als eine Partei dar, die aufgrund ihres Wertefundamentes umso mehr Widersprüche und Wendungen aushalten kann. „Wenn wir erfolgreich waren, dann haben wir es immer anders gemacht. Wie haben wir es gemacht? Als große Volkspartei der Mitte, schichten- und konzessionsübergreifend, ohne dogmatisches Ideologieverständnis (…) haben wir immer wieder alte Antworten überprüft und neue gegeben, mit dem Sinn für die Realitäten des Lebens. Das macht die Stärke der CDU aus, liebe Freunde.“ So verortet sich Angela Merkel in der Tradition von Adenauer und Helmut Kohl, indem sie deren reformerische Momente gewichtet. Sie beschreibt zugleich die CDU als eine Partei, die seit jeher den Wandel gestaltete, indem sie im rechten Moment anders reagierte als erwartet – solange Richtung und Kompass stimmten.

Dass sich diese Argumentation auf einem schmalen Grad bewegt – erinnert sei an die Begeisterung des katholischen Parteiflügels für den Papst, der Reformen erst im Sommer bei seinem Deutschlandbesuch eine Absage erteilte, scheint Merkel bewusst. Immer wieder versichert die Bundeskanzlerin, dass die Änderungen des CDU-Kurses nicht gravierend seien. „Wir wollen die Hauptschule nicht abschaffen“, erläutert sie beispielsweise die neue Schulpolitik. Auch dass Bildung Ländersache sei, stehe nicht zur Debatte: „...aber wir müssen Wege finden, um Haupt- und Realschule unter ein Dach zu bringen.“ Die Abschaffung der Wehrpflicht versucht sie gegenüber Kritikern damit zu relativieren, dass die Idee des Staatsbürgers in Uniform, seit jeher Leitbild der CDU-Politik, weiterhin gelte.

Wenn die Kanzlerin dann auf die bewegte Geschichte des Tagungsortes Leipzig Bezug nimmt, wenn sie die Völkerschlacht, Schillers „Ode an die Freude“ und die Montagsdemonstrationen anspricht, erhält ihre Rede einen fast revolutionären Pathos – so gelingt die Verortung im Zeitenwandel, so soll möglicherweise sogar der Schulterschluss mit der arabischen Revolution gelingen. Die Zeiten sind im Umbruch, doch die CDU gestaltet mit und geht voran. Es ist ja ihre zutiefst christliche Aufgabe. In einem leidenschaftlichen Plädoyer für die europäische Union fordert die Kanzlerin dann auch ein Engagement ähnlich wie zu Zeiten der Wiedervereinigung: Alte Mauern müssen fallen. „Es ist Zeit für einen Durchbruch zu einem neuen Europa!“, ruft sie den Abgeordneten entgegen. So viel Freude am Wandel gab es selten auf einem CDU-Parteitag: auch wenn sich dahinter vielleicht nur die Forderung nach einer europäischen Schuldenbremse verbirgt.

Viele Absichtsbekenntnisse, wenig Antworten

Mitunter treten die Widersprüche zu früheren Reden offen zu Tage. Noch im Jahr 2003 hatte Angela Merkel die Liberalisierung der Märkte als einzig zukunftsfähige Politik gepriesen – nun beruft sie sich auf Alexander Rüstow, einem Gründungsvater der sozialen Marktwirtschaft, um genau diese Liberalisierung moralisch zu geißeln. Die Finanzwirtschaft habe Dienerin der Menschen zu sein, aber: „Überall stoßen wir auf ein Denken, das kein Morgen kennt: ökologisch, sozial, ökonomisch. Wir sehen eine globale Finanzwirtschaft, in der alles seinen Preis hat, aber immer weniger einen Wert.“

Anzeige

Wie sie diese Erkenntnis in politisches Handeln übersetzen will und ob sich nicht doch nur Rhetorik dahinter verbirgt, bleibt Angela Merkels Geheimnis. Vielleicht wird das Handeln aber auch immer schwieriger. In einem ihrer ehrlichsten Momente verweist die Bundeskanzlerin darauf, dass im Angesicht von nun sieben Milliarden Erdenbürgern die größten Herausforderungen der Menschheit noch keine Lösung bereithalten. „Nahrung, Gesundheit, Energie. Ich sage ganz offen: Befriedigende Antworten auf die Frage, wie wir das alles sichern und gleichzeitig unsere natürlichen Ressourcen und das Klima schützen wollen, haben wir noch nicht.“



Mirko Wenig

Anzeige