„Unisex-Tarife in der Versicherung sind richtig!“, schlussfolgert Herbert Fromme in seinem Kommentar für die Financial Times Deutschland und nennt die Gleichberechtigung ein hohes zivilisatorisches und politisches Gut (Financial Times vom 01.03.2011). Fromme hebt am Beispiel möglicher Regionaltarife der Krankenversicherung darauf ab, dass die Einteilung in Geschlechter-Risikogruppen bisher von Willkür geleitet war. „In der Autoversicherung gibt es Regionaltarife, in der Krankenversicherung nicht. Dabei weiß jeder, dass 1000 Versicherte in München deutlich teurer sind als im Kreis Diepholz.“ Unter anderem, weil die Stadtbevölkerung leichteren Zugang zu Fachärzten hat und psychologische Betreuung öfter in Anspruch nimmt. Ein Großstadtzuschlag wäre laut Fromme also durchaus denkbar, wird aber nicht diskutiert. Man kann dieses Argument weiter führen: Müssten nicht auch besserverdienende Bürger mehr zahlen als ärmere, da sie statistisch gesehen - ähnlich der Bevölkerungsgruppe der Frauen - älter werden?
Das Ergebnis des Urteils sei jedoch nicht so auszulegen, dass nun eine neutrale Umverteilung zwischen Männer und Frauen stattfindet. „Männer mehr, Frauen weniger – so funktioniert das nicht.“ Fromme begründet dies damit, dass Versicherungsanbieter mit dem Risiko kalkulieren werden, dass sich zwischenzeitlich weniger Männer und mehr Frauen versichern, was sich in den neuen Tarifen niederschlägt. Die Tarife könnten also zunächst im Schnitt steigen.

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Anders hingegen Philipp Kron in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der dem Urteil kritisch gegenüber steht („Richter machen Politik“ vom 02. März 2011). Er wertet den Richterspruch als Eingriff in die Vertragsfreiheit und stellt den Nutzen der neuen Gleichbehandlung in Frage. „Durch dieses Urteil wird keine benachteiligte Gruppe besser gestellt. Es ist politisch fragwürdig und ökonomisch unklug.“ Vielmehr sei zu erwarten, dass durch die gesetzliche Schädigung eines funktionierenden Marktes letztendlich alle verlieren werden, da die Tarife von den Anbietern zukünftig weniger passgenau kalkuliert werden können und die Branche mit Sicherheitszuschlägen auf alle Tarife reagieren muss. Die Folge: Verträge werden teurer. Auch verweist Kron darauf, dass die statistischen Unterschiede zwischen Frauen und Männern hinsichtlich Lebenserwartung und Unfallverhalten signifikant genug seien, um eine Einteilung in unterschiedliche Risikogruppen zu rechtfertigen. Von einer Benachteiligung der Frau konnte bisher folglich keine Rede sein.

Ähnlich argumentiert Autorin Kathrin Gotthold in einem Kommentar für die Tageszeitung Die Welt („Unisex-Tarife widersprechen der Lebenswirklichkeit“, Die Welt vom 01.03.2011). Sie wertet die bisher verschiedenen Tarife als „Spiegelbild der Realität“, so dass unterschiedliche Risiko-Policen für Männer und Frauen die logische Konsequenz einer geschlechtsspezifischen Lebensweise seien. Gotthold orientiert sich mit ihrer Argumentation stark an der Perspektive der Versicherungsanbieter, wonach eine Äquivalenz von Beitrag und Leistung durch unterschiedliche Geschlechter-Tarife zu gewährleisten sei. „Frauen werden durchschnittlich etwa vier Jahre älter als Männer, das ist eine statistisch belegte Realität. Für Rentenversicherer bedeutet das ganz simpel, dass das angesparte Kapital auch für eine längere Auszahlungsphase reichen muss.“
Selbst das Argument, wonach Frauen aufgrund von Schwangerschaft und Geburt mehr für die Krankenkasse zu zahlen hätten, bringt sie erneut in die Debatte ein – obwohl der deutsche Gesetzgeber bereits nach der Einführung des „Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes“ im Jahr 2006 hier eine geschlechtsneutrale Anrechnung der Risiken anmahnte. Dem entgegen müssten Männer bei Lebensrisiko-Policen mehr zahlen, da sie auch zeitiger sterben und Angehörige hinterlassen. Gottholds Fazit: „Künftig werden Männer für spezielle Risiken der Frauen mitbezahlen – und umgekehrt. Die Richter zeigen mit ihrem Urteil, welche absurden Auswüchse eine zwanghaft geschlechterneutrale Rechtsprechung annehmen kann.“

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Daniela Kur wiederum begrüßt in der Süddeutschen Zeitung den Urteilsspruch und wertet ihn als Erfolg gegen eine starke Versicherungslobby (Daniela Kur: „Männer, Frauen, Menschen“ Süddeutsche Zeitung vom 01.03. 2011). In euphorischen Tönen spricht die Autorin sogar von einem „Meilenstein auf Europas Weg zu einer modernen, gleichberechtigten Gesellschaft“. Sie verweist darauf, dass von der bisherigen Einteilung in Geschlechter-Risikogruppen vor allem Männer profitierten: Weil Frauen mit der Renten- und Krankenversicherung gerade in jenen Bereichen schlechter gestellt waren, in denen es um wesentlich mehr Geld geht.
Das Argument der Versicherungsanbieter, wonach eine individuelle Kalkulation von Risiken nun nicht mehr möglich sei, bezeichnet Daniela Kur als Unsinn. Versicherer „dürfen auch weiter unterschiedliche Tarife anbieten, die etwa an den Beruf oder persönliche Gewohnheiten anknüpfen – aber eben nicht an das Geschlecht.“
So sei gerade die bisherige Differenzierung nach Geschlecht willkürlich und ohne jede Grundlage gewesen – warum etwa soll eine dicke und rauchende Frau eine längere Lebenserwartung haben als ein sportlicher und schlanker Sachbearbeiter? Kur verweist darauf, dass die Versicherungsgesellschaften auch bei der Einführung von Unisex-Tarifen für die Riester-Rente mit Beitragserhöhungen drohten. „Ein plumper Bluff, und genauso wird es diesmal sein.“ Damals sorgte die Einführung von einheitlichen Geschlechtertarifen sogar für einen neuen Abschluss-Boom.


Mirko Wenig

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