Grundfähigkeitsversicherung – Eine Alternative mit Potenzial?
Die Grundfähigkeitsversicherung boomt, doch der Markt wird zunehmend unübersichtlich. Innovative Zielgruppenansprache und Integration in die betriebliche Vorsorge bieten Chancen. Gleichzeitig droht Enttäuschungspotenzial durch hochschwellige Leistungsauslöser. Dr. Patrick Dahmen und Hans-Joachim Schütt von der Valytics GmbH analysieren, wie Versicherer jetzt die Weichen richtig stellen können.

Die Grundfähigkeitsversicherung (GFV) hat sich in den vergangenen Jahren als kostengünstige Alternative zur Berufsunfähigkeitsversicherung (BU) etabliert – auch wenn sie streng genommen aufgrund des fehlenden direkten Bezugs zum beruflichen Kontext keine vollwertige Alternative darstellt. Trotz nicht ganz erfüllter Wachstumserwartungen hat sie die zuvor schwer vermittelbare Erwerbsunfähigkeitsabsicherung weitestgehend verdrängt.
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Ihr Potenzial, die Verbreitung der Arbeitskraftabsicherung entscheidend zu steigern, zeigt sich deutlich an der gestiegenen Marktdynamik: Mittlerweile konkurrieren 26 Anbieter im Maklervertrieb um die Gunst der Vermittler und Endkunden.
Die Innovationsdynamik im Markt hat sich in den vergangenen Jahren auf die Identifikation neuer Leistungsauslöser konzentriert. Grundfähigkeiten, wie beispielsweise die Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs, sollen den Absicherungsbedarf für den Kunden greifbarer machen. Allerdings hat die schiere Innovationsflut zu einer abnehmenden Transparenz und Vergleichbarkeit der Produkte geführt – eine Herausforderung für Vermittler als auch Kunden.
Trends in der Produktgestaltung: Zielgruppenorientierung und Premium-Varianten
Ein Trend zeigt sich in der Integration moderner Alltagsaktivitäten in das Grundfähigkeitskonzept, etwa dem Fahren eines E-Scooters. Diese Erweiterung dürfte vor allem das Ziel verfolgen, jüngere Zielgruppen kommunikativ besser zu erreichen.
Zudem werden vermehrt Leistungsbausteine aus BU- oder Dread-Disease-Produkten übernommen. So gehört beispielsweise der Arbeitsunfähigkeits-Baustein (AU) oder Zusatzleistungen bei schweren Erkrankungen, wie Krebs, Schlaganfall oder eingeschränkter Herz- und Lungenfunktion, zum Standard der angebotenen Premium-Varianten. Diese Upgrades führen jedoch zu deutlich höheren Prämien – und damit potenziell zu einem Preisniveau nahe klassischer 5-Sterne-BU. Eine nachhaltige Ausweitung der Marktdurchdringung ist hier fraglich. Es droht eine ähnliche Entwicklung wie seinerzeit bei der temporären BU auf Basis der EU-Absicherung.
Kinder als neue Zielgruppe: Desto jünger, desto besser
Der Wettbewerb um das Eintrittsalter ist mit Absicherungskonzepten für Kinder ab 6 Monaten in seine finale Phase gekommen. Die Kombination aus BU-Wechseloption mit den gerade für Kinder sehr greifbaren Leistungsauslösern scheint als ein sinnvolles Lebensphasenkonzept akzeptiert und ist vertrieblich etabliert. Auffällig ist jedoch die bislang geringe Zahl zielgruppenspezifischer Ausgestaltungen bei den Leistungsauslösern. Aktuell bietet lediglich ein Anbieter eigene AVB für diese Zielgruppe an. Nach dem Ende des Eintrittsalter-Wettbewerbs dürfte hier eine Qualitätswelle im Bedingungswerk folgen.
Innovationstreiber Zielgruppenkonzepte
Zielgruppenorientierung ist in der GFV nicht neu, gewinnt jedoch aktuell rasant an Bedeutung. Bereits vor einigen Jahren haben erste berufsgenossenschaftlich vorgeschriebene Untersuchungen, wie z.B. die G26-Untersuchung, also die Fähigkeit zum Tragen von Atemschutzgeräten (Feuerwehr), den Weg in die GFV gefunden. Nunmehr etablieren sich zunehmend berufsgruppenspezifische Leistungsauslöser, wie z.B. das Ein- und Aussteigen aus einer Lok, das Fahren von landwirtschaftlichen Fahrzeugen oder Gabelstaplern, das Ziehen und Schieben einer Schubkarre bzw. Benutzung eines Baugerüstes. Diese Entwicklungen ermöglichen eine präzisere Kundenansprache und eine bessere Nachvollziehbarkeit des Leistungsversprechens. So wird etwa der abstrakte Verlust der „Fingerfertigkeit“ durch das konkrete Beispiel „Fähigkeit, einen Wundverband zu wechseln“ für medizinische Berufe deutlich greifbarer.
Integration in die bAV: Grundfähigkeitsversicherung in der betrieblichen Arbeitskraftabsicherung (bAKS)
Die Integration der GFV in betriebliche Versorgungskonzepte wird diesen Trend weiter verstärken. Arbeitgeber können durch zielgruppenspezifische Ausgestaltung der Grundfähigkeiten in ihrem betrieblichen Umfeld nicht nur einen echten Mehrwert bieten, sondern auch ihre Attraktivität als Arbeitgeber nachhaltig steigern. Die GFV wird so zu einem relevanten Baustein moderner bAV-Strategien.
Was könnte den Boom bremsen?
Die GFV steht im Spannungsfeld zwischen bezahlbarer Prämie und möglichst umfassendem Versicherungsschutz. Die Folge sind teils extrem hochschwellige Leistungsauslöser, die Enttäuschungen bei Kunden hervorrufen können. So reicht es beispielsweise einem Fliesenleger nicht, nur noch 30 Minuten auf seinen Knien arbeiten zu können. Die versicherte Grundfähigkeit „knien“ gilt meist erst dann als verloren, wenn ein Fliesenleger sich nicht mehr aus eigener Kraft auf beide Knie niederlassen und anschließend – auch mit Abstützen – wieder aufrichten kann.
Solche Konstellationen bergen Enttäuschungspotenzial – mit der Gefahr, das Image der gesamten Produktgattung zu beschädigen.
Wie Versicherer jetzt reagieren sollten?
Die konsequente Zielgruppenorientierung bei der Ausgestaltung von Leistungsauslösern sowie die Positionierung der GFV im betrieblichen Kontext sind entscheidende Erfolgsfaktoren. Eine qualitative Aufwertung der Leistungsauslöser bei gleichzeitiger Reduktion der reinen Anzahl versicherter Fähigkeiten wird in den Vertrieben auf Zustimmung stoßen. Hierbei sollte der bisherige auf Rentenzahlungen ausgerichtete Leistungsbegriff der Unterstützungsleistungen (z.B. zum Erlernen kompensatorischer Fähigkeiten bei ausgewählten Grundfähigkeiten) erweitert werden.
Die Zukunft der Grundfähigkeitsversicherung liegt in der Balance zwischen Verständlichkeit und Leistungsnähe sowie zwischen Zielgruppenfokus und kalkulierbarer Prämie. Wer diese Balance meistert, wird künftig eine wichtige Rolle in der Absicherung der überwiegend körperlich Tätigen spielen.
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